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Aus dem Vollen schöpfen
Predigt zu Lk 6,36–42

194 4. So. n. Trinitatis, 13. Juli 2025, Frankfurt

Jesus redet über Barmherzigkeit, Richten und Demut – und zwar aus der Perspektive des Glaubens.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist ein Abschnitt aus dem Evangelium nach Lukas
im 6. Kapitel, das wir gerade gehört haben.
Ich werde es auslegen im Zusammenhang
mit Colins Taufspruch aus Psalm 139:

„Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir“.

Lasst uns beten: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege!2 — Amen

Liebe Schwestern und Brüder,

(1) Christus spricht:

36Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.

Jesus stellt uns Gott als Beispiel hin
und sagt:

So sollt ihr auch sein.

Ihr seid zu Gottes Ebenbild geschaffen
und deshalb soll auch euer Handeln
dem Handeln Gottes ähnlich sein.

Doch können wir uns Barmherzigkeit überhaupt leisten?
In welchen Fällen sollen wir zurückstecken
und in welchen Fällen sollen wir auf unser Recht bestehen?
Wir Menschen sind endlich.
Wir können nicht unendlich in Beziehungen investieren,
sondern müssen irgendwann auch an uns selbst denken,
oder an unser Projekt,
oder daran, was uns wichtig ist.
Das hat sein Recht und seine Gründe.

Jesus erinnert uns hier daran,
dass wir einen Barmherzigkeits-Vorschuss erhalten haben.
Die Barmherzigkeit,
zu der er uns auffordert,
ist das Erbarmen,
das wir von Gott erbitten,
wenn wir rufen

κύριε ἐλέησον,
Herr erbarme dich.
3

Dieses Erbarmen haben wir erfahren,
als Gott uns in unserer Taufe angenommen hat.
Jesus fordert also nicht etwas von uns,
das wir selber liefern müssten,
sondern wir sollen aus dem Vollen schöpfen,
das von Gott kommt.

Gott will, dass wir barmherzig sind, wie er.
Aber er vergisst nicht, dass wir Menschen sind.
Deswegen gibt er uns den Vorschuss
und birgt uns in seinen Händen.

Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir.

Die Geborgenheit der Gottesbeziehung
erlaubt uns,
barmherzig zu sein mit anderen
und barmherzig zu sein mit uns selbst.

(2) Jesus sagt:

37Und richtet nicht,
so werdet ihr auch nicht gerichtet.

Verdammt nicht,
so werdet ihr nicht verdammt.

Vergebt,
so wird euch vergeben.

Der Passiv hier steht für Gott.
Von Gott werden wir nicht gerichtet,
Gott wird uns nicht verdammen
und Gott wird uns vergeben.

Es ist nicht symmetrisch.
In Bezug auf Barmherzigkeit,
sollen wir sein wie Gott.
Deswegen erinnert er uns an Gottes Barmherzigkeit.
In Bezug auf das Urteilen
dürfen wir nicht vergessen,
dass wir Menschen sind
und nicht Gott.
Deswegen erinnert er uns an das Gericht.

Wir komme in unserem Leben aber oft an Stellen,
wo wir ein Urteil fällen müssen.
Wir müssen uns entscheiden,
was wir für richtig halten,
was wir für wahr halten.
Wir müssen unseren Weg gehen
und uns für eine Richtung entscheiden.
Wir müssen handeln
und darin steckt immer die Frage nach richtig und falsch.
Wir kommen nicht darum herum, zu sündigen,
Prioritäten zu setzen.
Wir müssen Wichtiges zurückstellen wegen noch wichtigerem:
- Familie oder Arbeit?
- Freundschaft oder Gewissen?
- Einheit oder Klarheit?
Oft können wir kaum vermeiden,
anderen weh zu tun.
Was wir machen, machen wir falsch.

Der Schlüssel zu dem, was Jesus hier sagt,
liegt in „vergeben“.
Das Wort, das er benutzt, heißt „lassen“, „loslassen“.
4

Die Kunst des Lebens
hat ganz viel mit der Fähigkeit zu tun,
loszulassen.

Wer erwachsen wird,
muss seine Kindheit loslassen.

Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind
und dachte wie ein Kind
und war klug wie ein Kind;
als ich aber ein Mann wurde,
tat ich ab, was kindlich war.
5

schreibt Paulus.

Wenn deine Kinder groß werden,
musst du sie loslassen.
Erste gehen sie allein zur Schule,
dann zur Disco,
dann auf Reisen,
dann suchen sie sich einen Partner
und gründen ihre eigene Familie.

Alle, die altern, müssen ihre Jugend loslassen.
Und dann auch ihre Kraft.
Und ihre Fähigkeiten.
Selbstständigkeit.

Vergeben ist loslassen;
loslassen von Schuld;
die der anderen und der eigenen.

Wenn du verurteilst,
machst du Schuld fest und hart.
Wenn du verdammst,
machst du Schuld endgültig.
Dann hast du dich selber schon gerichtet.

Vergebt,
so wird euch vergeben.

Doch der Schaden ist real,
der Schmerz deutlich.
Wenn ich vergebe,
mache ich mich angreifbar,
ja verwundbar.
Wer vergibt,
geht das Risiko ein,
wieder verletzt zu werden.

Doch…

Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir.

Jesus ruft uns nicht blind zur Vergebung,
sondern im Vertrauen auf Gott.

38Gebt, so wird euch gegeben:
Ein volles,
gedrücktes,
gerütteltes
und überfließendes Maß
wird man in euren Schoß geben;
denn eben mit dem Maß,
mit dem ihr messt,
wird man euch wieder messen.

Wer wirklich stark ist,
stärkt andere.
Wer wirklich klug ist,
hält nicht so viel auf die eigene Meinung.
Wer wirklich reicht ist,
teilt. — 
Wir sind von Gott reich beschenkt
und können uns das Teilen leisten,
ohne uns selbst
oder das unsere
zu verlieren.

(3) Nach der Barmherzigkeit
und dem Urteilen
redet Jesus zuletzt von der Demut.

Über die Demut wird schlecht geredet,
weil die Mächtigen
die Schwachen zur Demut rufen.
Sie vergessen,
dass wir alle vor Gott schwach sind.
Wir alle bedürfen der Gnade Gottes.

Jesus sagt:

Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen?
Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?

Wenn wir aber alle blind sind,
woher kommt uns Hilfe?
Sie kann nur von außen kommen.
Wir sind darauf angewiesen,
dass Gott uns anspricht und aufweckt,
dass er uns anfasst und uns neu formt,
wie ein Töpfer, der sein Werk verbessert,
dass er uns in den Arm nimmt,
wie ein Vater, der sein Kind auf den richtigen Weg schickt.

Es ist unser Glaube,
dass das hier im Gottesdienst passiert.
Natürlich hat Gott viele Wege zu deinem Herzen,
aber er hat uns versprochen,
dass er durch die Predigt in unser Inneres spricht,
wie Jesus zu seinen Jüngern gesprochen hat.
Er hat versprochen,
dass er mitten unter uns ist,
leiblich und wirkmächtig,
wenn wir ihn im Sakrament zu uns nehmen:
eine Liebeserklärung
und eine Umarmung.

Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!6 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ps 119,105


3 „Ein Unterschied zwischen οἰκτίρειν und ἐλεεῖν […] ist nicht wahrzunehmen […]“. – Bultmann, Art. οἰκτίρω, ThWNT Bd. 5, S. 160.


4 ἀπολύω


5 1.Kor 13,11


6 Phil 4,7


Manuskript pdf, 1.9 MB)

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