13:51

Wahrheit und Poesie
Predigt zu Joh 19,16–30

183 Karfreitag, 18.4.2025, Frankfurt

Dichter sind Propheten. Sie schauen und spüren die Schwingungen der Welt. Die gießen sie in Poesie. Poesie schlägt in unseren Herzen eine Saite an. Poesie verbindet unser Leben mit einer tiefen Wahrheit.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Was ist Wahrheit?2

Pontius Pilatus’ Frage
ist die Überschrift für einige Predigten
in dieser Passions- und Osterzeit.
Dies ist die dritte Predigt aus dem Zyklus.
Heute geht es um Wahrheit und Poesie.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist die Schilderung von Jesu Tod
nach dem Johannes-Evangelium,
wie wir sie gerade als Lesung gehört haben.

Lasst uns beten:
Herr,
lass dein Wort auf uns kommen
wie Frühregen und Spätregen,
damit wir wachsen und Frucht bringen
für deine große Ernte.
— Amen

Liebe Schwestern und Brüder!

(1)

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. …

„Moment…“

Der Deutschlehrer unterbricht den Vortrag des Neuntklässlers.

Dir ist schon klar,
dass hier zwei Personen reden,
oder?

Nein, das war ihm nicht klar,
hat ihn auch nicht wirklich interessiert.
Er möchte das Gedicht vor allem hinter sich bringen.

Der Deutschlehrer seufzt.
Er stellt sich hin
und macht vor:

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –

Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron‘ und Schweif? –

Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. …

„Ok,“ sagt der Schüler,

„da reden zwei Personen miteinander.
Aber ich habe immer noch nicht verstanden,
was das soll“.

„Der Sohn hat Fieber,“ antwortet der Lehrer.

„Ich hatte auch schon mal Fieber.
Na und?“

„Im 18. Jahrhundert,
als das geschrieben wurde,
war die Medizin noch nicht so weiter.
Als der Vater der Sohn im Fieber vom Erlkönig reden hört,
weiß er, dass er im Fieber fantasiert“.

„Was, der hat Hallus?“

„Ja, genau, er halluziniert.
Als er den Sohn vom Erlkönig reden hört,
weiß der Vater,
dass es sehr schlecht um ihn steht“.

Das Licht der Erkenntnis strahlt über das Gesicht des Schülers.

„Ah!
Der Vater fürchtet sich nicht vor dem Erlkönig.
Er hat Angst um sein Kind.“

„Genau!
Damals sind viele Kinder
an Scharlach oder Mumps gestorben.
Die Erinnerungen an tote Kinder
gab es im Grunde in jeder Familie.“

„Das ist also gar keine Gruselgeschichte für Kinder,
sondern für Erwachsene?“

„Ja, dieses Gedicht spiegelt die Ängste von vielen Menschen;
und auch ihre Trauer.
Das Gedicht spricht aber auch noch heute Menschen an.
Wir modernen Menschen
haben auch nicht immer alles unter Kontrolle.“ —

Da erfasst den Deutschlehrer die Leidenschaft für seinen Beruf.
Er sagt:

„Dichter sind Propheten.
Sie schauen und spüren die Schwingungen der Welt.
Die gießen sie in Poesie.
Poesie schlägt in unseren Herzen eine Saite an.
Poesie verbindet unser Leben mit einer tiefen Wahrheit“.

Er blickt auf und schaut in staunende und fragende Gesichter
von 30 Jugendlichen; –
und macht dann weiter mit der dritten Strophe vom „Erlkönig“.

(2) Der Schüler war nachdenklich,
als er nach Hause kam.
Er warf seine Schulsachen in sein Zimmer
und ging erst mal zum Großvater.
Der lag in einem Pflegebett
mitten im Wohnzimmer.
Das war für alle Beteiligten eine blöde Situation.
Für den Opa, weil er daliegt,
für alle anderen, weil er da liegt:
Sie hatten ja kein Wohnzimmer mehr
zum Fernsehen-Gucken,
spielen
und wofür man ein Wohnzimmer halt braucht.
Die Mutter war besonders genervt,
weil sie die Arbeit hatte.

Als der Enkel das Zimmer betritt,
blickt der Opa kurz auf.
Er ließt aus einem kleinen grünen Buch vor:

2Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen? […]

15Ich bin ausgeschüttet wie Wasser,
alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst;
mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.

16Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe,
und meine Zunge klebt mir am Gaumen,
und du legst mich in des Todes Staub.

17Hunde haben mich umgeben,
und der Bösen Rotte hat mich umringt;
sie haben meine Hände und Füße durchgraben.

18Ich kann alle meine Knochen zählen;
sie aber schauen zu und sehen auf mich herab.

19Sie teilen meine Kleider unter sich
und werfen das Los um mein Gewand… 

„Hattest du wieder Streit mit Mama?“

„Was?“

„Na, die böse Rotte umringt dich und Hunde…“

„Das ist der 22. Psalm“.

„Aha“.

„Der Pfarrer hat mir eine Bibel geschenkt.
Neues Testament und Psalmen.
So fühle ich mich gerade:

Ich bin ausgeschüttet wie Wasser,
alle meine Knochen haben sich voneinander gelöst;
mein Herz ist in meinem Leibe wie zerschmolzenes Wachs.

Meine Klamotten sind in der Kleidersammlung,
mein Auto ist verkauft…“

„Jetzt fang nicht schon wieder mit dem Auto an!“,
tönt es aus der Küche. –

Der Enkel möchte das Thema wechseln und fragt:
„Ist das so etwas wie Poesie?“

„Poesie? Ja sicher…“

„Unser Deutschlehrer hat gesagt,
Poesie schlägt in unseren Herzen eine Saite an.
Sie verbindet unser Leben mit einer tiefen Wahrheit“.

Der Opa denkt darüber nach und sagt:
„Der Pfarrer hat gesagt,
in Gottes Wort finden wir Trost in schweren Zeiten.
Immerhin ist das hier meinem Leben ziemlich ähnlich.
Menschen ist es halt schon früher so gegangen,
wie es mir geht“.

„Gibt es nicht auch eine Geschichte,
wo die Kleider von jemand verteilt werden?“

„Ja, bei Jesus.
Die Soldaten teilen sich seine Kleidung unter dem Kreuz. –
Aber mit Jesus will ich mich lieber nicht vergleichen“,
meint der Großvater etwas verlegen.

„Vielleicht will Jesus sich mit dir vergleichen“.

„Wie meinst du das?“

„Na ja,
die Menschen haben Sachen erlebt
und haben dieses Gedicht geschrieben.
Jesus hat ein Leben gelebt,
das zu diesem Gedicht passt.
Wenn dieses Gedicht jetzt eine tiefere Wahrheit enthält,
über dein Leben,
dann ist dein Leben verbunden
mit dem Leben von Jesus“.

„Na ja, eher mit dem Tod von Jesus“. —

„Aber Jesus bleibt ja nicht im Tod“.

(3) In der Nacht weckt der Vater den Sohn:
„Opa geht es nicht gut.
Komm runter“.

Als der Enkel ins Wohnzimmer kommt,
sitzt die ganze Familie um Opas Bett.
Der alte Mann freut sich den Enkel zu sehen,
aber er ist sehr schwach
und atmet nur sehr schwer.
Er zeigt auf die kleine Bibel
und der Enkel schlägt den 22. Psalm auf:

19Sie teilen meine Kleider unter sich
und werfen das Los um mein Gewand.

20Aber du, Herr, sei nicht ferne;
meine Stärke, eile, mir zu helfen! […]

24Rühmet den Herrn, die ihr ihn fürchtet;
ehret ihn, ihr alle vom Hause Jakob,
und vor ihm scheuet euch, ihr alle vom Hause Israel!

25Denn er hat nicht verachtet das Elend des Armen
und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen;
und als er zu ihm schrie, hörte er’s.

Gegen 2.00 Uhr morgens
tat der Großvater seinen letzten Atemzug
und verschied.

(4) Liebe Gemeinde,
ein Stück Poesie verbindet Leben mit Leben
und Geschichten mit Geschichten.
Wir haben einen Abschnitt gehört aus dem Evangelium.
Die Soldaten unter dem Kreuz
teilen Jesu Kleider
und losen um den Mantel.

„So sollte die Schrift erfüllt werden…“

Der 22. Psalm verbindet den Abschnitt des Evangeliums
mit der kleinen Geschichte,
die ich erfunden habe.
Der Psalm verbindet aber auch das Leben von Jesus
mit unserem Leben.
Wir haben den Psalm gerade schon gesungen,
als Introitus.
So ist unser Leben
auch musikalisch und poetisch,
verbunden mit dem Leben von Jesus.

Jesu, meins Lebens Leben,
Jesu, meines Todes Tod,
der du dich für mich gegeben
in die tiefste Todesnot. — Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Joh 18,38


Manuskript zum Ausdrucken pdf, 835 KB)

Weitere Predigten zu Karfreitag:
Schlachtschiff und Walzer
Mt 27,33–54, Karfreitag

Es ist schon verkehrte Welt: Wir suchen die Wahrheit da, wo es weh tut. Wir vermuten Authentizität da, wo es nicht zu schön ist. Doch Gott lässt sich auf uns ein. Er kommt in unsere verkehrte Welt und redet so, dass wir es verstehen.

„Was ein Theater!“
Mk 15, Karfreitag

Ich nehme euch heute Morgen mit in einen Besprechungsraum im Prätorium in Jerusalem. Hier findet die Dienstbesprechung der Garnisons- und Stabskompanie statt. Das ist die militärische Einheit derjenigen Soldaten, die für Jesus’ Hinrichtung zuständig waren.

Drei Worte Jesu in der Lukas-Passion
Lk 23,32–49, Karfreitag

Dreimal erhebt Jesus in der Passionsschilderung bei Lukas die Stimme. In dieser Predigt betrachten wir seine letzen Worte am Kreuz.

Ein guter Tausch
2.Kor 5,7–21, Karfreitag

Predigt für den Blütenlese Video-Gottesdienst am Karfreitag 2020