Leben aus Christi Wirklichkeit
Predigt zu Röm 12,9–16
„Macht euch nicht dem Schema dieser Welt gleich!“ – U.a. so überschreibt Paulus die Mahnungen am Ende seines Briefes. Was aber ist anders an der Liebe, mit der wir lieben sollen, und was hat das mit Freude und Weinen anderer Menschen zu tun?
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.1 Amen.
Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist aus dem Brief des Paulus an die Römer
im 12. Kapitel.
Der Apostel schreibt:
9Die Liebe sei ohne Falsch.
Hasst das Böse, hängt dem Guten an.
10Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich.
Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor.
11Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt.
Seid brennend im Geist.
Dient dem Herrn.
12Seid fröhlich in Hoffnung,
geduldig in Trübsal,
beharrlich im Gebet.
13Nehmt euch der Nöte der Heiligen an.
Übt Gastfreundschaft.
14Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht.
15Freut euch mit den Fröhlichen
und weint mit den Weinenden.
16Seid eines Sinnes untereinander.
Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den geringen.
Haltet euch nicht selbst für klug.
Lasst uns beten:
Herr Gott, himmlischer Vater,
komme zu uns in deinem Heiligen Geist,
so dass der Brief des Paulus an die Römer
dein Wort an uns ist. — Amen
Liebe Schwestern und Brüder,
(1) ich möchte euch heute Morgen mitnehmen
in die Werkstatt von Leonardo da Vinci.
Leonardo ist in seine Studien vertieft.
Er ließt eine Beschreibung des Menschen,
geschrieben vom antiken römischen Architekten Vitruvius.
Der schreibt:
[Liegt der Mensch auf dem Rücken
und] man setzt die Zirkelspitze
an der Stelle des Bauchnabels ein
und schlägt einen Kreis,
dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände
und die Zehenspitzen berührt.
Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt,
wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden…2
Leonardo macht sich Notizen zu diesem Text
und unter die Notizen zeichnet
mit Zirkel und Lineal
Kreis und Quadrat.
In die geometrischen Figuren fügt er
das Bild eines Menschen ein.
Seine Maße entsprechen genau dem Ideal,
das Vitruvius beschrieben hat. –
Dieses Bild vom Menschen gefällt Leonardo sehr gut.
Auf der einen Seite zeigt dieses Bild eine ideale Harmonie.
Leonardo weiß,
dass die Welt von Gott geschaffen wurde
und er glaubt daran,
dass Gottes Plan für die Welt
absichtsvoll und harmonisch ist.
Beziehungen und Proportionen sind nicht zufällig.
Wenn wir ihre Logik verstehen,
dann schauen wir Gott.
Das ist nicht nur eine Form von Lobpreis und Anbetung,
sondern die Kenntnis von Proportionen
ist für Leonardo auch nützlich
in seinem Alltag als Mahler.
Auf der anderen Seite gefällt Leonardo auch gut,
dass in diesem Bild
der Mensch
das Maß aller Dinge ist.
Wie alle seine Zeitgenossen
maß Leonardo mit Einheiten,
die dem menschlichen Körper entsprechen:
Spanne, Elle, Fuß und Klafter.
Schon allein deshalb
war man auf der Suche nach dem idealen Menschen.
Und seinen idealen Menschen
malte Leonardo
- als Italiener,
- als Mann,
- in mittlerem Alter,
- sportlich, aber nicht übertrieben.
Und wenn Leonardo den Bauch einzog
und die Arme ausstreckte,
dann brauchte er kau zu mogeln:
Er entsprach diesem Ideal ziemlich gut. —
Im Kunstraum einer Schule
war Leonardos „Vitruvianischer Mensch“
lebensgroß an die Wand gemalt.
Den einen Tag
ging es im Unterricht
um den Humanismus der Renaissance.
Der Lehrer erklärte:
Das ist eine Abbildung
des idealen Menschen.
Da lacht eine Schülerin lauf auf.
Ihr Vater ist aus Schwarz-Afrika,
sie selbst sitzt im Rollstuhl.
Sie sagt:
Wenn das der Ideale Mensch ist,
was bin denn dann ich?
Weiblich, schwarz und behindert?
Ein Mitschüler raunzt:
Ist das Kunst,
oder kann das weg?
Und sie meint:
Genau!
Bin ich Mensch, oder kann ich weg?
Muss ich zivilisiert werden?
Darf ich kolonialisiert werden?
Oder umgedreht und umerzogen?
Missioniert und passend gemacht?
Oder bin ich hier Mensch
und darf hier sein?
(2) Liebe Gemeinde,
dies führt uns vor Augen,
wie problematisch es ist,
ein Ideal davon zu haben,
was der Mensch ist.
Jedes Ideal legt nämlich auch fest,
wie ein Mensch sein soll.
Das ist immer auch gewaltbehaftet,
selbst bei einem hohen Ideal,
das nach Gott fragt
und den Menschen achtet.
Das gilt auch für das Gesetz
und die ethischen Tugendsysteme der Philosophen.3
Wir Menschen
leben mit unseren Idealen, Gesetzen und Tugenden
eben ganz in dieser Welt. —
Paulus dagegen hat einen ganz anderen Ansatz.
Am Anfang unseres Kapitels schreibt er den Römern:
Macht euch nicht dem Schema dieser Welt gleich!4
Unter diesem Vorzeichen
ist das Folgende zu lesen.5 —
(a) Paulus schreibt:
„Die Liebe sei ungeheuchelt“. —
Jede Beziehung ist auch Arbeit.6
- Das gilt für die Freundschaft:
Auch, wenn zwei Menschen eine tiefe Gemeinsamkeit haben,
sind sie sich andernorts fremd. - Wenn ich von einem Menschen ganz hingerissen bin,
suche ich seine Nähe –
aber ich suche sie auch für mich, nicht nur für den anderen. - Wir alle wissen,
wie viel Arbeit die Liebe in der Familie ist.
Man sucht sich seine Verwandten nicht aus.
Die Liebe aber,
von der Paulus schreibt, ist himmlische Liebe.
Er schreibt von der Liebe,
die von Gott kommt und zu Gott strebt.
Es ist die Liebe,
die Gott uns schenkt
und die Gott von uns fordert.
Diese Liebe ist uns Menschen ein Stück weit fremd,
denn sie kommt „von oben“.
Weil sie himmlisch und kostbar ist,
darf sie nicht mit Heuchelei vermischt werden.
Das wäre so,
als wenn man unter die Nutella scharfen Senf mischt.
Das macht die Nutella unbrauchbar.
In jeder Beziehung müssen wir Kompromisse eingehen.
- Wir müssen uns mal einen Kommentar verkneifen,
wenn ein Freund wieder was blödes sagt. - Wir müssen auf der Arbeit mit Menschen zusammenarbeiten,
wie wir privat nicht leiden können.
Bei der Liebe,
von der ich rede,
ist das nicht notwendig –
und es wäre sogar schädlich,
denn diese Liebe basiert auf Jesus.7
- Jesus hat mich angenommen
- und Jesus hat den anderen angenommen.
Jesus ist die Brücke zwischen uns beiden,
auch wenn eine direkte Liebe zwischen uns
schwierig oder unmöglich ist.8
Durch diese Liebe können wir Menschen
quasi um die Ecke lieben.
Wir haben einander nur durch Christus,
aber durch Christus haben wir einander auch wirklich,
haben wir uns ganz für alle Ewigkeit.9 —
(b) Paulus schreibt auch:
15Freut euch mit den Fröhlichen
und weint mit den Weinenden.
Die Philosophische Schule der Stoiker vertrat,
dass wir unser Leben dann am besten Leben,
wenn wir unsere Gefühle vollständig im Griff haben.
Noch heute reden wir davon,
dass jemand mit „stoischer Ruhe“
einen Schicksalsschlag hingenommen habe.
Auf die Gefühle der anderen
will sich der souveränen Stoiker sich schon gar nicht einlassen.
Paulus lehrt hier das genaue Gegenteil,
denn Gott hat das genaue Gegenteil getan.
In Jesus hat sich Gott ganz auf uns Menschen eingelassen.
Er legt überhaupt keinen Wert darauf,
souverän und unberührt im Himmel zu bleiben,
sondern er „entäußerte sich“
und „erniedrigte sich selbst
und war gehorsam bis zum Tod,
ja zum Tod am Kreuz.“10
Jesus Christus teilt deine
Freude und teilt dein Leid.
Wir haben Gemeinschaft mit ihm –
und durch ihn haben wir Gemeinschaft untereinander.
Durch ihn ist die brüderliche Lieb herzlich,
brennen wir im Geist
und dienen dem Herrn,
fröhlich in der Hoffnung,
geduldig in Trübsal,
beharrlich im Gebet.
(3) Liebe Gemeinde,
ich möchte zum Schluss noch einmal
auf Leonardos Zeichnung zurückkommen.
Leonardo sucht den idealen Menschen
in einer harmonischen Welt,
das „Ebenbild des unsichtbaren Gottes“,11
den „Abglanz seiner Herrlichkeit“.12
Leonardo sucht den Menschen,
der das Wahre, Schöne, Gute verkörpert.
Paulus weist uns in die entgegengesetzte Richtung:
Trachtet nicht nach hohen Dingen,
sondern haltet euch herunter zu den geringen.
Der wahre Mensch
ist der Schmerzensmann.13
Jes 53,2bEr hatte keine Gestalt und Hoheit.
Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt,
die uns gefallen hätte.
3Er war der Allerverachtetste und Unwerteste,
voller Schmerzen und Krankheit.
Er war so verachtet,
dass man das Angesicht vor ihm verbarg;
darum haben wir ihn für nichts geachtet.
4Fürwahr, er trug unsre Krankheit
und lud auf sich unsre Schmerzen. —
Der wahre Mensch ist kein Ideal,
sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Als Jesus ans Kreuz genagelt war,
zockten die Henker
um sein Untergewand und sein Obergewandt.
Er war nackiger als nackt,
geprügelt und gedemütigt.
Er hat sich verletzlich gemacht
und wurde verletzt. —
So kommt zu uns
der ewige Gott.
Jesus ist mit der vergangenen Ewigkeit verbunden,
weil die Propheten ihn vorausgesagt haben.
Christus ist mit der kommenden Ewigkeit verbunden,
weil er an Ostern auferstanden ist.
Und noch der Auferstandene
die Nägelmahle trägt an seinem Leib.
Er muss diesen Makel nicht tragen.
Doch er trägt sie gerne,
damit Thomas ihn erkennt.14
Der Auferstandene trägt die Leidensmahle,
damit du dich in ihm erkennst.
Sein Körper trägt keine Idealmaße.
Er will nicht, dass die Welt nach sich vermessen wird.15
Statt dessen sind weine Arme ausgebreitet,
um dich zu umarmen.
Von Gott kommt mir ein Freudenschein,
wenn du mich mit den Augen dein
gar freundlich tust anblicken.
O Herr Jesu, mein trautes Gut,
dein Wort, dein Geist, dein Leib und Blut
mich innerlich erquicken.
Nimm mich
freundlich
in dein Arme,
Herr, erbarme dich in Gnaden;
auf dein Wort komm ich geladen.16
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.
1 1.Kor 1,3
2 Zitiert nach dem Wikipedia-Artikel „Vitruvianischer Mensch“.
3 Die Begriffe „Gesetz“ und phil. „Tugendsysteme“ gehen zurück auf Oda Wischmeyer, „Exegese für die Predigt“ (A) zum Proprium.
4 μὴ ⸀συσχηματίζεσθε τῷ αἰῶνι τούτῳ, Röm 12,2.
5 Die erste Überschrift des Kapitels ist freilich die Hingabe des eigenen Leibes als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer (Röm 12,1). Dazu müsste ich hier so viel erklären, dass ich es weglasse und die Andersartigkeit des Ansatzes betone.
6 Die folgenden Spiegelstriche und die Absätze zu Liebe skizzieren φιλία, ἔρος, στοργή und ἀγάπη, meinen Notizen der Vorlesung „Das Liebesebot“, Söding, WS 13/14 an der Ruhr Universität, Bochum, folgend.
7 Diese Liebe kommt nämlich von Gott und sie bleibt nur echt, wenn ihre Herkunft bei Gott bleibt. Gott ist die treibende Kraft in alledem. Er handelt. Trotzdem wird diese Liebe zu unserer Liebe, die „wir verantworten und bei der wir uns auch behaften zu lassen haben“ (Ulrich Wilckens, EKK, z.St., S. 19).
8 Vgl. Wilckens, z.St. S. 20 in Bezug auf Röm 14.
9 Bonhoeffer, „Gemeinsames Leben“, DBW 5, S. 21f in Bezug auf Phil 1,14.
10 Aus Phil 2,7 und 8.
11 Kol 1,15
12 Heb 1,3
13 “The truest of all men was the Man of Sorrows“, H. Melville, Moby Dick, Chapt. 96, “The Try Works“, Norton 3rd ed. p. 314. Melville verfehlt vielleicht die Pointe, wenn er uns dann auf das Sprüche- und das Predigerbuch verweist. In der Gegenwart Christi ist gerade nicht „alles eitel“, sondern unser Leid gefasst in sein Leid und was „in Niedrigkeit“ gesät wird, ersteht an Ostern „in Herrlichkeit“ durch seine Gnade.
14 Vgl. Joh 20,24ff.
15 Sie ist doch eh „durch ihn“ geschaffen, vgl. Joh 1,1–14.
16 ELKG² 391,4 „Wie schön leuchtet der Morgenstern“, Philipp Nicolai, 1599.
Weitere Predigten zu 2. So. n. Epiphanias:
Die Heiligung der Erstegeborenen
Heb 12,14–24,
2. So. n. Epiphanias
Neben dem steilen Anspruch des Apostels, dass niemand ohne Heiligung den Herren sieht, bespreche ich in dieser Predigt den Kontrast zwischen der Offenbarung am Sinai und an „unserem“ Zion, dem Gottesdienst.
Unter der Hand Gottes
Ex 33,12–23,
2. So. n. Epiphanias
Der Predigtabschnitt spielt nach einem Streit. Moses ist unsicher. Wird Gott sein Versprechen halten? Hat Gott mich noch lieb? Wie kann ich mir sicher sein?
Das Weinwunder zu Kana
Joh 2,1–11,
2. So. n. Epiphanias
Die Geschichte von der Hochzeit zu Kana hat die Ausleger aller Zeiten vor ein Rätsel gestellt. Mehr…
In Christus
Röm 12,9–16,
2. So. n. Epiphanias
Die Epiphanias-Zeit ist die Zeit, in der die Kirche die Gegenwart des Mensch-gewordenen Herren bewusst genießt.