18:03

Die Heiligung der Erstegeborenen
Predigt zu Heb 12,14–24

136 2. So. n. Epiphanias, 14. Januar 2024, Frankfurt

Neben dem steilen Anspruch des Apostels, dass niemand ohne Heiligung den Herren sieht, bespreche ich in dieser Predigt den Kontrast zwischen der Offenbarung am Sinai und an „unserem“ Zion, dem Gottesdienst.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist aus dem 12. Kapitel
des Briefes an die Hebräer. —
Wir befinden uns im Schlussteil des Briefes,
in dem der Apostel
aus dem Gesagten seine Schlüsse zieht
und die Empfänger ermahnt.

Er schreibt:2

14Jagt dem Frieden nach mit jedermann
und der Heiligung,
ohne die niemand den Herrn sehen wird.
15Und seht darauf,

  • dass nicht jemand Gottes Gnade versäume;
  • dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse
    und Unfrieden anrichte
    und viele durch sie unrein werden;
  • 16dass nicht jemand ein […]3 Gottloser wie Esau sei,
    der für eine einzelne Mahlzeit
    sein Erstgeburtsrecht verkaufte.
    17Ihr wißt ja,
    dass er danach verworfen wurde,
    als er den Segen ererben wollte:
    da fand er keinen Raum zur Buße,
    obwohl er sie mit Tränen suchte.

18Denn ihr seid nicht gekommen zu dem Berg,
den man anrühren konnte
und der mit Feuer brannte,
und nicht in Dunkelheit
und Finsternis
und Ungewitter
19und nicht zum Schall der Posaune
und zum Ertönen der Worte,
bei denen die Hörer baten,
dass ihnen keine Worte mehr gesagt würden,
20weil sie’s konnten nicht ertragen konnten […]4 ;

21und die Erscheinung war so schrecklich,
dass [selbst]
5 Mose sprach:

Ich bin erschrocken und zittere. —

22Nein!6
Ihr seid gekommen

  • zu dem Berg Zion
  • und zu der Stadt des lebendigen Gottes,
    dem himmlischen Jerusalem,
  • und zu den vielen tausend Engeln,
  • und zu der Versammlung 23und Gemeinde der Erstgeborenen,
    die im Himmel aufgeschrieben sind,
  • und zu Gott, dem Richter über alle,
  • und zu den Geistern der vollendeten Gerechten
  • 24und zu dem Mittler des neuen Bundes,
    Jesus,
  • und zu dem Blut der Besprengung,
    das besser redet als Abels Blut.

Lasst uns beten:
Herr, Gott, Heiliger Geist,
komm herab auf deine Gemeinde
und segne du alles Reden und Hören,
auf dass wir in und unter dem Brief an die Hebräer
Gottes Wort für uns hören.
— Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

(1) das ist ein ganz schön steiler Anspruch,
den der Apostel hier stellt:
Wir sollen der Heiligung nachjagen,
ohne die niemand den Herren sehen wird.
Die Dringlichkeit dieses Aufrufes
unterstreicht er noch mit der Geschichte von Esau,
der für ein Linsengericht seine Erbschaft hergibt
und dem keine Buße möglich war.

In der Bergpredigt sagt Jesus:

Ihr sollt nicht meinen,
dass ich gekommen bin,
das Gesetz oder die Propheten aufzulösen;
ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.
Denn wahrlich, ich sage euch:
Bis Himmel und Erde vergehen,
wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe
noch ein Tüpfelchen vom Gesetz,
bis es alles geschieht.

Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst
und lehrt die Leute so,
der wird der Kleinste heißen im Himmelreich;
wer es aber tut und lehrt,
der wird groß heißen im Himmelreich.

Denn ich sage euch:
Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist
als die der Schriftgelehrten und Pharisäer,
so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
7

Wie sollen wir aber eine bessere Gerechtigkeit haben,
als die Pharisäer und Schriftgelehrten?
Die Pharisäer bauten einen Zaun um die Torah.
Sie haben alle Regeln ganz wörtlich genommen
und haben sie dann noch mal eine Raste verschärft.
So wollten sie vermeiden,
dass die Menschen
auch nur in die Nähe des Gesetzesbruches kamen.

Das ist die Idee,
auf die manche Skurrilitäten zurückgehen.
In Israel gibt es Aufzüge,
die fahren Am Sabbat den ganzen Tag hoch und runter
und halten auf jeder Etage.
Gott sagt, man soll am Sabbat ruhen.
Die Pharisäer sagen,
das heißt,
man darf am Sabbat kein Feuer machen.
Orthodoxe Juden sagen:
Wenn man einen elektrischen Schalter betätigt,
ist das wie Feuer machen.
Daher muss man Aufzug fahren können,
ohne einen Schalter zu drücken.

Man mag das belächeln,
aber hier ist der ernste Versuch vorhanden,
das Gesetz bis ins kleinste Tüpfelchen hinein zu befolgen.
Wie sollen wir das toppen?

Jesus selbst geht auch einen anderen Weg.
Er selbst heilte einen Mann am Sabbat.
Als die Pharisäer sich beschwerten,
sagte er ihnen:
Sie würden das doch auch tun,
wenn eines ihrer Tiere am Sabbat in die Grube fällt.

Wie viel mehr ist ein Mensch als ein Schaf?8

Oder als seine Jünger am Sabbat Ähren ausraufen,
weil sie Hunger haben.
Da zitiert Jesus den Propheten Hosea und sagt,
Gott habe Gefallen an Barmherzigkeit,
nicht am Opfer.
9

Jesus selbst macht uns vor,
Prioritäten zu setzen
bei der Erfüllung des Gesetzes:
- Menschenliebe ist Gott wichtiger als religiöse Genauigkeit.
- Gottes Gesetz lebt in Barmherzigkeit und Milde.

Das schafft aber auch Ungewissheit.
Diejenigen, die das Gesetz buchstabengetreu nehmen,
können genau nachprüfen,
wann sie das Gesetz erfüllen
und wann nicht.
Was ist, wenn uns Gott irgendwann die Quittung aufmacht:

Dir fehlen 100,– € zur Gerechtigkeit.
An dem Tag hättest du genauer hingucken müssen
und an dem anderen Tag
hast du den Text viel zu genau genommen!

Deswegen ist es wichtig,
genau hinzuschauen,
was Jesus sagt.

Ich bin nicht gekommen,
das Gesetz aufzulösen …
Ich werde das Gesetz erfüllen.

Das sagt er von sich selbst.
Jesus erfüllt das Gesetz bis zum Tüpfelchen.
Indem er es aber erfüllt,
ist „alles geschehen“,
was zur Erfüllung des Gesetzes zu geschehen hat.
10

Wir Christen erfüllen das Gesetz also nicht
mit Blick auf einen Mangel,
sondern aus der überfließenden Gnade Gottes.
Die „bessere Gerechtigkeit“ ist nicht von je her unsere,
sondern wir haben sie ererbt
durch Jesus Christus.

So ist zu verstehen,
wie der Apostel auf Esau kommt.
Esau hat das Recht auf sein Erbe,
das er als Erstgeborener hatte,
für ein Linsengericht an seinen Bruder verkauft.
Darin zeigt sich eine Geringschätzung seines Vaters,
die sich nicht mehr zurücknehmen ließ.
Die Katastrophe in dieser Geschichte
ist auf der Beziehungsebene. —

In der Beziehung mit Jesus Christus,
im Glauben an ihn,
haben wir den Überschuss durch Gnade,
das ist die Freiheit, die wir brauchen,
um das Gesetz zu erfüllen
zu einer „besseren Gerechtigkeit“.

(2) Liebe Gemeinde,
der zweite Teil unseres Abschnittes
illustriert diesen Gedanken mit einem Kontrast.

Auf der einen Seite
malt uns der Apostel das Bild der Sinai-Offenbarung vor Augen:
Als Gott da geredet hat,
war das wie ein Vulkanausbruch.
- Feuer,
- Finsternis,
- Ungewitter,
- und Gottes Stimme war wie der Schall einer Posaune.
Alle haben Angst,
selbst Moses zittert.
Diese Offenbarung ist zwar sinnenfällig,
aber auch gewaltbesetzt.
Sie bleibt gebunden an den Berg Sinai.

Einer meiner Lehrer für Altes Testament hat einmal gesagt:

Wie gut, dass wir nicht genau wissen,
wo dieser Berg ist.
Wie sehr wäre der umkämpft!

Er sagte das mit Blick auf das heutige Jerusalem
und den Zionsberg in seiner Mitte.
Wie sehr ist dieser Ort umkämpft,
weil Menschen ihn für sich beanspruchen.

Und dies ist nicht etwa ein Fingerzeig auf Juden und Muslime.
Die Grabeskirche in Jerusalem
wird von sechs christlichen Konfessionen beansprucht,
aber den Schlüssel hat eine muslimische Familie.
Die Christen können sich nämlich nicht einigen,
wer die Kontrolle hat
über den Ort des Wunders.

Dagegen schreibt der Apostel,
dass wir nicht zu einem sichtbaren Berg hinzugetreten sind,
sondern wir treten zum Ort der Offenbarung
im Gottesdienst.

Hier treten wir

  • zu dem Berg Zion,
    wo Gottes Tempel steht
    und seine Herrlichkeit gegenwärtig ist,
  • und zu der Stadt des lebendigen Gottes,
    dem himmlischen Jerusalem,
  • und zu den vielen tausend Engeln,
    In ihren Lobgesang stimmen wir ein
    mit unserem großen Dankgebet.
  • Wir treten
    zu der Versammlung
    23und Gemeinde der Erstgeborenen,
    die im Himmel aufgeschrieben sind,
    Wir sind eine Erbengemeinschaft.
    Wenn du wissen möchtest,
    wie Menschen aussehen,
    die Gott erwählt hat,
    dann schau mal nach links,
    schau mal nach rechts:
    Da siehst du sie.
  • Wir treten
    zu Gott, dem Richter über alle,
  • und zu den Geistern der vollendeten Gerechten.
    Alle Menschen,
    die den Glauben mit uns teilen,
    die Märtyrer,
    die den Glauben vor uns bezeugt haben,
    sind geistlich im Gottesdienst gegenwärtig.
    Das klingt für uns sehr katholisch,
    weil daraus mal der Heiligen-Kult entstanden ist
    und da war der Luther dagegen.
    Aber dieser Gedanke hat auch ein starkes Evangelium:
    Die Beziehung,
    die wir zu Gott haben,
    der Glaube,
    stiftet eine Beziehung zwischen uns,
    die so stark ist,
    dass sie auch den Tod überwindet.
    So sind deine Vorbilder im Glauben heute hier
    und stärken deinen Glauben,
    wenn dich der Zweifel angehen sollte.
  • Wir treten zu dem Mittler des neuen Bundes,
    Jesus,
  • und zu dem Blut der Besprengung,
    das besser redet als Abels Blut.

„Das Blut deines Bruders schreit zu mir von der Erde“:
Das sagt Gott zu Kain.
11
Das Blut seines Bruders klagt den Mörder an.

Das Blut,
das Christus am Kreuz vergessen hat für uns,
ruft aber lauter
und bittet um Gnade für uns,
seine Geschwister.

(Schluss)
Ihr lieben,
an diesen Gedanken und Bildern merkt man gut,
dass der Hebräerbrief aus einer anderen Kultur zu uns kommt.
Manches bleibt uns fremd.
Aber der Abstand ist gar nicht so groß,
wie man zuerst meint,
weil der Herr Jesus Christus ihn überbrückt.

Das gleiche gilt auch für uns.
Wir sind als Menschen auch sehr unterschiedlich.
Doch der Glaube,
unsere Beziehung zu Jesus Christus,
stiftet auch Beziehung unter uns.

Der Ort der Offenbarung,
unser brennender Dornbusch,
unser himmlischer Gottesdienst,
ist dort,
wo zwei oder drei in Christi Namen versammelt sind.

Ihm sei Lob und Ehre
von nun an,
bis in Ewigkeit.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!12 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ich greife mehrmals in die Luther-Übersetzung ein, um den Text verständlicher zu machen.


3 Das ἓν διὰ δυοῖν „Abtrünniger und Gottloser“ ist für meine Hörer Ballast, der die Aussage verdunkelt, nicht verstärkt.


4 Details zur Verinfachung gestrichen.


5 Das Wort stimmt von der Übersetzung her nicht, aber von der Sache. Es geht dem Autor um die Überbietung Moses’ über das restliche Volk; vgl. Grässer, EKK, S. 309.


6 „Sondern“ ist lexikalisch genauer, aber nicht rhetorisch.


7 Mt 5,17–20


8 Mt 12,12


9 Mt 12,7


10 Nach D. Bonhoeffer, DBW 4, S. 117.


11 Vgl. Gen 4,10.


12 Phil 4,7


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