15:24

Das Besondere leuchtet
Predigt zu 1.Thess 4,1–8

166 20. So. n. Trinitatis, 13. Oktober 2024, Frankfurt

Ihr seid etwas Besonderes! Ihr seid von Gott geliebt, erwählt, sagt Paulus den Thesselonichern, den Wittenbergern und den Bekenntnislutheranern aus Hassen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist ein Abschnitt aus dem
1. Brief des Paulus an die Thesselonicher
im 4. Kapitel.
Ich werde den Abschnitt im Laufe der Predigt vorlesen.

Lasst uns beten:
Herr Gott, himmlischer Vater,
sende uns deinen Heiligen Geist,
damit die Worte des Apostels nach Thessoloniki
zu einem Brief an uns werden. — Amen

Liebe Schwestern und Brüder
aus der Gemeinde in Thessaloniki
(und der Trinitatisgemeinde in Frankfurt),

(1) ihr seid etwas Besonderes!
Ihr seid von Gott geliebt
und wir, die Apostel, wissen, dass ihr erwählt seid,
denn unsere Predigt des Evangeliums
kam zu euch nicht allein im Wort,
sondern auch in der Kraft – sie hat euch bewegt! –
und in dem Heiligen Geist
und in großer Gewissheit.
2
Ihr seid etwas besonderes!

Im 4. Kapitel, dem Abschnitt für die Predigt,
führt Paulus dann aus,
was das für die Lebensführung der Gemeinde heißt
(in den Worten der BasisBibel):

1Ihr habt von uns gelernt,
wie ihr euer Leben führen müsst, um Gott zu gefallen.
Und ihr lebt auch schon so.
Nun bitten und ermahnen wir euch
unter Berufung auf den Herrn Jesus:
Macht darin noch weiter Fortschritte.

2Ihr kennt ja die Anweisungen,
die wir euch im Auftrag des Herrn Jesus gegeben haben.
3Denn es ist der Wille Gottes, dass ihr heilig seid.
Und dazu gehört,
dass ihr die Unzucht meidet.

4Jeder von euch soll lernen,
mit seinem eigenen Leib
3
in heiliger und ehrenhafter Weise umzugehen.
5Folgt nicht niederen Trieben und Gier,4
wie es die Heiden tun, die Gott nicht kennen.

6Setzt euch in geschäftlichen Angelegenheiten
nicht über euren Bruder hinweg
und bereichert euch nicht an ihm.
Denn der Herr bestraft das alles.

Das haben wir euch schon früher gesagt
und euch ausdrücklich gewarnt.
7Denn Gott hat uns nicht zur Unsittlichkeit berufen,
sondern zu einem Leben in Heiligkeit.
8Wer diese Berufung zurückweist,
weist demnach nicht einen Menschen zurück.
Er weist vielmehr Gott zurück,
der euch mit seinem Heiligen Geist erfüllt. —

In klassischer Lesart
sind in diesem Abschnitt drei Themen angesprochen:
Sex, Geld und Macht.
Alle drei Themen sind nach wie vor virulent.

  • Man denke z.B. an die MeToo-Debatte vor einigen Jahren:
    reiche, weiße Männer nutzen ihre Machtposition
    gegenüber Frauen aus.
  • Man denke an die Missbrauchsfälle in kirchlichen
    und anderen Kontexten.
  • Man denke an die Macht, die den Reichen zufällt,
    weil sie das Geld haben.

Was Paulus den Thesselonichern hier schreibt,
ist ausgelegt für den Alltag
von durchschnittlichen Menschen.
Dabei trägt er sein Anliegen
als Bitte und freundliche Ermahnung vor.
Paulus übt Machtverzicht
und nutzt nicht die Autorität, die ihm als Apostel zukäme.

Er fährt fort und schreibt:

9Von der brüderlichen Liebe aber,
ist es nicht nötig,
euch zu schreiben,
denn ihr selbst seid von Gott gelehrt,
euch untereinander zu lieben. […]

11Setzt eure Ehre darein,
dass ihr ein stilles Leben führt
und das Eure schafft
und mit euren eigenen Händen arbeitet,
wie wir euch geboten haben,
damit ihr ehrbar lebt vor denen,
die draußen sind […]

Ihr seid etwas Besonderes!
Ihr seid von Gott geliebt und erwählt
und seine Liebe und Erwählung
strahlen durch euer Leben –
im Alltag und am Feiertag –
nach außen aus.

Hat das funktioniert? —
Und wie das funktioniert hat!

Seht, wie lieb sie einander haben!5

So zitiert Tertullian seine heidnischen Zeitgenossen
mit Blick auf die Christen.
Für antike Menschen war das Christentum attraktiv,
weil es als eine spirituelle Gemeinschaft war,
- die prinzipiell offen war für alle,
- und weil es Kriterien für eine gelungene Lebensführung bot.

(2) Liebe Wittenberger Christenmenschen
(und liebe Trinitatisgemeinde in Frankfurt),
ihr seid etwas Besonderes!

Die Altgläubigen lehren die Evangelischen Räte,
Keuschheit, Armut und Gehorsam.
Die heißten aber nur „evangelisch“,
in Wirklichkeit sind sie gesetzlich.
Sie verdunkeln sie das Evangelium.

Aber!
Gott hat in seiner unendlichen Güte
unserem Wittenberger Professor,
dem großen Reformator Martin Luther,
die Augen geöffnet.
Der Mensch wird selig durch Glauben allein
ohne des Gesetzes Werke.
Das ist der Glaubensartikel,
mit dem die Kirche steht und fällt.
Euch wird evangelisch gepredigt.
Schon allein deswegen seid ihr etwas Besonderes! —

Was war passiert? —
Das Christentum war als Bewegung sehr erfolgreich.
Es wurde zur Mehrheits- und sogar zur Staatsreligion.
In der Gesellschaft damals gab es,
wie heute,
Menschen, die es mit dem Herzen dabei waren,
und solche,
die eher mit der Mehrheit mitschwimmen.
Die gab es in der Kirche dann auch.
Aus diesem Einheitsbrei wollten manche ausbrechen.
Sie wollten ihren Glauben mit Ernst und Nachdruck leben.
In ethischer Hinsicht folgten sie
unter Anderem unserem Abschnitt heute Morgen
und haben drei Themen identifiziert:

Sex, Geld und Macht.

Dagegen sollen helfen:

Keuschheit, Armut und Gehorsam.

Im Laufe der Frömmigkeitsgeschichte
haben sich die Evangelischen Räte verselbstständigt.
Zu Luthers Zeiten
galt vielen das Mönchsgelübte mehr als die Taufe.
Damit hatte die Moral
dem Glauben den Rang abgelaufen.
Etwas Besonderes unter den Menschen zu sein
war wichtiger als die Gnade Gottes.
Ein wesentliches Anliegen der Reformation war,
Glaube und Moral,
also Gnade und Lebensführung,
ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen.

(3)Liebe lutherischen Christenmenschen,
Nachfahrer der Bekenner aus hessischen Landen,
aus Gemünden,
aus Allendorf (allen Allendorfs),
aus Steeden und Aumenau,
aus Höchst und Usenborn
und aus allen anderen Zentren
der bekenntnislutherischen Bewegung –
und natürlich auch alle anderen Bekenntnislutheraner
aus der Trinitatisgemeinde in Frankfurt
(auch die, die in Offenbach und Hanau wohnen),
Ihr seid etwas Besonderes!

Die Gründer-Generation unserer Kirche
hat gehandelt –
unter großen Kosten und Scherzen.

  • Rationalismus und Aufklärung
    haben die Heilige Schrift in Frage gestellt.
  • Die lutherische Lehre wurde bedroht,
  • denn die Menschwerdung Gottes wurde geleugnet
  • als die Realpräsenz des Leibes und des Blutes Christi
    verneint wurde.
  • Der König hat in das Regiment der Kirche eingegriffen.

Da haben eure Vorfahren ihre eigene Kirche gegründet.

Wenn das Wort nicht mehr soll gelten,
worauf soll der Glaube ruh’n?
6

Ihr seid etwas Besonderes,

  • denn in unserer Kirche gibt es Wort und Sakrament.
  • Hier wird gepredigt mit Gesetz und Evangelium.
  • Hier haben die Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche
    volle Gültigkeit.

Der ein oder andere
trägt sie vor sich her
wie eine lutherische Monstranz. — 
Spätestens an dieser Stelle merkt man:
Hier könnte auch irgendwas schief werden.

Was eigentlich ein Zuspruch sein soll:

Ihr seid etwas Besonders,
Gottes Wort und Liebe sind bei euch!

wird nur als Gesetz und als Pflicht gehört:

Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

… sondern geh immer brav zur Kirche.

Sing nicht ihre Lieder

… sondern nur Choräle mit eckigen Noten.

Geh doch in die Oberstadt

… also nach Frankfurt

So sprach die Mutter, sprach der Vater, lehrte der Pastor.7

Die Kinder aus dem Dorf waren nicht gut genug.
Man musste immer besonders brav,
besonders bescheiden
und besonders keusch sein.
„Lutherisch“ ist für viele zu einem Synonym geworden
- für Enge,
- für Denk- und Redeverbote,
- für harte, gewaltbehaftete Theologie und Praxis.

Wir haben recht!

und

Die anderen dürfen nicht bei uns zum Abendmahl.

Ein Pastor aus einer alten SELK-Familie sagte mir:

„Wort und Sakrament“ – das sind nur Worthülsen.
Sie bedeuten mir nichts mehr.

Und:

Wir leben in einem post-konfessionellen Zeitalter.

Mit anderen Worten:

Niemand interessiert sich mehr dafür.

Eine junge Frau sagt mir:

Ich bin nur wegen meiner Freunde in der SELK.
Theologisch kann ich gar nichts damit anfangen.

„Theologisch“ steht hier für die kirchliche Haltung
zu Frauenordination oder zu Sexualethik.

Ich will die Enge nicht mehr! —

Jesus sagt:

Ihr seid das Licht der Welt.

Es kann die Stadt, die auf einem Berg liegt,
nicht verborgen sein.
Man zündet auch nicht ein Licht an
und setzt es unter einen Scheffel,
sondern auf einen Leuchter;
so leuchtet es allen, die im Hause sind.

So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten,
damit sie eure guten Werke sehen
und euren Vater im Himmel preisen.
8

Ihr seid etwas Besonderes –
und es wird durchscheinen.
Die Menschen werden es merken
und zwischen ihnen und Gott entsteht etwas Neues.

Paulus schreibt an die Korinther:

Wir haben aber diesen Schatz in irdenen Gefäßen.9

Er sagt uns das,
damit wir uns selbst nicht für wichtiger halten, als Gott.
Wir brauchen unsere Tradition nicht vor uns her tragen.

Der Satz gilt aber auch andersrum:

In irdenen Gefäßen haben wir den Schatz.

- Theologie und Sprache,
- Tradition und Selbstverständlichkeiten,
- Musik und Liturgie,
- die Art, wie wir Gemeinschaft gestalten:
Sie sind typisch und authentisch für uns.
Sie sind nicht einfach austauschbar. —

Ohne Gefäß haben wir keinen Schatz.
Wenn man einen Dippe herstellt
und immer mehr am Ton spart,
bleibt irgendwann nur noch die Lasur übrig.
Ein irgendwie-christlicher Anstrich ist kein Gefäß.
Man braucht eine gute Menge Ton,
um einen Dippe zu machen.
Sinnvoller Weise
entscheidet man sich für ein einheitliches Material.
Unser Material heißt SELK.

Ohne Gefäß haben wir keinen Schatz.
Leib und Seele sind ein Ganzes;
der Glaube und sein Ausdruck sind das auch.
Unser Leben im Leib müssen wir gestalten.
Das Gleiche gilt für unser Leben im Glauben auch;
- ohne Enge und Gewalt,
- mit Liebe und mit Freiheit,
- mit Herzlichkeit nach Innen
- und Freimut nach außen.

Ihr seid das Licht der Welt.

Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Nach 1.Thess 1,4f.


3 σκεῦος κτᾶσθαι. σκεῦος, possession, merchandise, object, thing; jar, vessel, dish; a general term that can refer to a human being. κτᾶσθαι, to get, gain, buy; take along; to control. LUT84 bietet „seine eigene Frau zu gewinnen suche“. Das ist eine Engführung auf „Frau“. BasisBibel bietet: „mit seinem eigenen Körper … umzugehen“. Das ist eine Engführung auf den eigenen Körper. LUT17 bietet die beste der unglücklichen Lösung: „sein eigenes Gefäß in Heiligkeit und Ehre zu halten“ und verpasst „Gefäß“ eine Fußnote: „Gemeint ist der eigene Körper oder der der Ehefrau“. – Die Formulierung schillert zwischen einem Verständnis, das die angeredeten Männer auf die Ehefrauen verweist, und einem Verständnis, bei dem alle Christenmenschen hier angeredet sind („Brüder“ als generisches Maskulinum) und sie in Bezug auf den eigenen Körper ermahnt.


4 πάθει ἐπιθυμίας. Hier greife ich in den Text der BasisBibel ein.


5Vide, inquiunt, ut invicem se diligunt: Tertullian, in: Apologeticum 39, um 200. Ich zitiere nach diesem Dokument.


6 ELKG² 202,1


7 Franz Josef Degenhardt: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“, auf dem gleichnamigen Album, Deutschland, 1965.


8 Mt 5,14–16


9 σκεῦος: Das selbe Wort, dem ich oben die lange Fußnote gewidmet habe.


Manuskript zum Ausdrucken pdf, 867 KB)

Weitere Predigten zu 20. So. n. Trinitatis:
Gesetz und Evangelium (Lehrpredigt)
Mk 10,2–16, 20. So. n. Trinitatis

Die ganze Schrift, beide Altes und Neues Testament, wird in die zwei Stücke geteilt und lehrt diese zwei Stücke, nämlich Gesetz und Evangelium. – Diese Unterscheidung führe ich durch an unserem Predigtabschnitt und an einem der Verse aus der Genesis, die Jesus zitiert.

Der Sphinx’ Rätsel: eine Homilie
Pred 11,9–12,7, 20. So. n. Trinitatis

Dieser Abschnitt der Bibel ließt sich, als wären es Chiffren oder Code. Was verbirgt sich hinter den Bildern? Mehr…