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Christus lebt in mir
Predigt zu Gal 2,16–20

161 11. So. n. Trinitatis, 11. August 2024, Frankfurt

Britta ist die perfekte Hausfrau und Tobias ein harter Kerl, in den Augen der Nachbarn, der Freunde, der Stadt, der ganzen Welt – und vor Gott?

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist ein Abschnitt aus dem Brief des Paulus an die Galater
im 2. Kapitel:
1

16Wir wissen aber:
Kein Mensch gilt vor Gott als gerecht,
weil er das Gesetz befolgt.
Als gerecht gilt man nur,
wenn man an Jesus Christus glaubt.

Deshalb kamen auch wir zum Glauben an Jesus Christus.
Denn durch diesen Glauben an Christus
werden wir vor Gott als gerecht gelten –
und nicht, weil wir tun, was das Gesetz vorschreibt.
Schließlich spricht Gott keinen Menschen
von seinen Sünden frei, weil er das Gesetz befolgt.
2

  • 19 3Ich bin durch das Gesetz – dem Gesetz gestorben,
    damit ich Gott lebe.
  • Ich bin mit Christus gekreuzigt.
  • Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.
  • 20Was ich jetzt hier in der Welt4lebe,
    das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes,
  • der mich liebt
  • und der sich für mich dahingegeben hat.

Lasst uns beten:
Herr Gott, himmlischer Vater,
sende deinen Heiligen Geist auf diese Gemeinde,
damit die Worte des Paulus nach Galatien
Wort an uns sind. — Amen

Liebe Schwestern und Brüder!

(1a) Britta ist die perfekte Hausfrau.
Sie lebt in der Vorstadt in einem freistehenden Einfamilienhaus.
Alles sieht immer aus wie frisch aus dem Ei gepellt
bzw.: wie gerade aus der Verpackung gezogen.
Kindergeburtstage sind logistische und strategische Großtaten.
Es gibt in dieser Hinsicht ein gewisses Wettrüsten
unter den Müttern im Freundeskreis.
Ihre einzige Hilfe ist der Thermomix.
Ihr Mann geht lieber 10–12 Stunden arbeiten.
Er wolle eine leitende Funktion erreichen,
sagt er.

Eines Tages im Sommer
findet Britta einen Knoten, wo er nicht hingehört.
Vier Wochen
und eine Reihe von Untersuchungen und Diagnosen später
kriegt sie ihre erste Chemotherapie.
Die Medikamente sind heftig
und haben schlimme Nebenwirkungen.
Die Konzentration der Chemie
wird von Woche zu Woche gesteigert.

In der zehnten Woche kommt sie nach Hause
und ihre Mutter empfängt sie an der Haustür.
Sie hat auf die Kinder aufgepasst
und verabschiedet sich mit den Worten:

Das Unkraut in der Einfahrt könntet ihr mal wieder jäten.
Wie sieht das denn aus?

Ja, wie sieht das denn aus?
Wie steht sie denn in den Augen der Nachbarn da,
wenn da Unkraut ist
in ihrer Einfahrt?

Als ihr Mann abends nach Hause kommt,
bittet sie ihn,
das Unkraut weg zu machen.

Och hömma, guck mal auf den Tacho!
Ich bin um acht Uhr aus dem Haus,
eine Stunde fahren, acht Stunden Arbeit,
anderthalb Stunden durch den Stau zurück.

Mir doch egal, dein Unkraut!

Mit diesen Worten lässt er sich auf das Sofa fallen,
schnappt sich seinen Controller
und daddelt auf der Konsole.

„Dein Unkraut“?
Er hat ja auch leicht reden.
Zu seiner Geschlechterrolle gehört das nicht,
dass der Haushalt perfekt und sauber sein muss.
Seine Mutter sagt ihm nicht:

Wie sieht denn das aus mit dem Unkraut?

Das sagt sie höchstens Britta.

Am nächsten Vormittag setzt sich Britta in die Einfahrt
und jätet das Unkraut.
Die Sonne scheint ihr auf die Perücke
und die Medikamente tun das ihre.
Sie wird ohnmächtig.
Die Kinder wecken sie auf,
als sie aus der Schule kommen.

„Mama, was ist denn los?“ — „Ach nichts.“

Sie rafft sich auf,
geht ins Haus
und macht ihnen Mittagessen mit dem Thermomix. —

Woher kommt Britta Hilfe?5
Sie hat das Gefühl,
sie stände schlecht da,
- vor den Nachbarn,
- vor der Stadt,
- vor der ganzen Welt
- und vor Gott.
Wer stärkt sie?
Wer behütet sie?

(b) Tobias ist 16 Jahre alt.
Er hängt abends jetzt viel mit Leuten aus einer Klasse ab.
Die trinken schon mal einen zusammen
und es könnte auch sein,
dass da der ein oder andere Joint geraucht wurde. — Cool.
Er ist kein Baby mehr. Er gehört zu den Harten.

Den einen Abend hat er schon das erste Bier auf
und will sich eine Tüte bauen.
Sein Dealer reicht ihm statt dem Gras eine Hand voll Pillen.
Tobias zögert.

Was, bist du jetzt ein Schisser? Probier doch mal!

Als „Schisser“ kann ein harter Kerl wie Tobias
auf keinen Fall dastehen:
nicht vor dem Dealer, der ihm Drogen verkaufen will,
nicht vor den Leuten aus seiner Klasse.

Tobias nimmt die Pillen,
kauft das Gras auch noch
und probiert das alles mal aus.

Er hat einen Filmriss.
Als er zu sich kommt,
ist er in einem Raum mit weißen Wänden.
Er hat so eine Plastikmaske auf dem Gesicht.

„Was haste denn genommen?“ fragt der Arzt.

„Ich hab ’nen Joint geraucht“,
sagt Tobias die halbe Wahrheit.

Aha“, sagt der Arzt.

Vor der Notaufnahme warten seine Freunde.
Sie sind ganz schön aufgelöst,
aber sie helfen ihm, nach Hause ins Bett zu kommen.

Tobias hat das Gefühl,
er stände als Schisser da,
- vor dem Dealer,
- vor seinen Freunden,
- vor der ganzen Welt
- und vor Gott.
Woher kommt ihm da Hilfe?
Wer stärkt ihn?
Wer behütet ihn?

(2) Liebe Gemeinde,
in der antiken griechischen Stadt Kyme
konnte man folgende Inschrift lesen:

  • Isis bin ich, die Beherrscherin des ganzen Landes …
  • Ich habe das Recht stärker als Silber und Gold gemacht.
  • Ich habe festgelegt,
    dass die Wahrheit als gut anerkannt werde.
  • Ich habe die Verträge erfunden.
  • Ich habe den Griechen
    und den Barbaren die Sprachen verordnet.

Wir können davon ausgehen,
dass die Galater,
solche und ähnliche Inschriften kannten:
Die Gottheit stellt sich mit Namen vor
und sagt dann:
- Ich hab das gemacht …
- Ich hab das gemacht …
- Ich bin so und so …

Das kannten sie
und dann lesen sie von Paulus:

Kein Mensch gilt vor Gott als gerecht,
weil er das Gesetz befolgt.
Als gerecht gilt man nur,
wenn man an Jesus Christus glaubt. […]

  • Ich bin durch das Gesetz – dem Gesetz gestorben,
    damit ich Gott lebe.
  • Ich bin mit Christus gekreuzigt.
  • Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.
  • Was ich jetzt hier in der Welt lebe,
    das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes,
  • der mich liebt
  • und der sich für mich dahingegeben hat.

Die Galater werden kaum gedacht haben,
dass Paulus sich für eine Gottheit hält.
Aber er scheint ihnen sagen zu wollen:

Ich bin der göttlichen Sphäre zugehörig.
Ich bin mit Gott kompatibel.
Ich kann vor Gottes Angesicht bestehen.
6

  • Britta hat das Gefühl,
    sie stände schlecht da vor ihren Nachbarn.
  • Tobias hat das Gefühl,
    er steht als Schisser da vor seinen Freunden.
  • Paulus weiß,
    dass er als Gerechter dasteht vor Gott,
    weil er zu Jesus Christus gehört.

Heißt das,
Britta muss nie mehr putzen
und Tobias kann gefahrlos Drogen nehmen?

Das sei ferne!

  • Es ist gut, einen Spiegel zu haben,
    in dem man sich checken kann.
    Gott hat einen Anspruch an uns.
    Er beruft uns zu konkreten Aufgaben in dieser Welt.
  • Es ist gut, einen Riegel zu haben,
    der uns ein Maß und Grenzen vorgibt, die uns schützen.
  • Es ist gut, eine Regel zu haben für unser Leben:
    Gott lieben mit ganzer Kraft
    und unsere Nächsten wie uns selbst.

Aber unseren Wert in den Augen Gottes,
den haben wir nicht durch das Gesetz.
Unser Recht, sein Kind und seine Erben zu sein,
das haben wir nicht durch Arbeit oder Disziplin.

Paulus schreibt:

Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.

Was du jetzt lebst hier in dieser Welt,
das lebst du im Glauben an den Sohn Gottes,
der dich liebt
und der sich für dich dahingegeben hat. — Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.

1 In der Übersetzung der BasisBibel, wenn nicht anders ausgezeichnet.


2 Verse 17–18 behandeln das Haupt- und Konfliktthema für Paulus. Auf Thora-Observanz und die christologischen Implikationen (Ist Christus ein „Diener der Sünde“, wenn er Gesetzesübertreter und Heiden rechtfertigt?) gehe ich in dieser Predigt aber nicht ein, sondern konzentriere mich auf die heilsökonomischen Aspekte, die dem Apostel als Gesprächsgrundlage mit den Gegnern dienen. Vgl. H. D. Betz, „Der Galaterbrief“, München 1988, z.St.


3 Verse 19f folgen der Betz’ Übersetzung, ebd. S. 227, meinem Redefluss leicht angepasst.


4 Orig: „im Fleisch“.


5 Vgl. Ps 121,1, ELKG² 10.


6 „Rhetorisch bereitet diese Form keine Schwierigkeiten, aber die Analogie zu Aretalogien und sogar zu den systhemata der Mysterienkulte ist bemerkenswert“, schreibt Betz, ebd. S. 227. Ich lehne mich hier exegetisch weit aus dem Fenster, aber ich schreibe keine Hausarbeit. I’m trying to drive home a point. Der Zuspruch ist, dass dies nicht Paulus’ „persönliches, sondern ein paradigmatisches ‚Ich‘“ ist (Betz, S. 228).


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