15:54

Den Himmel durchschritten zu uns
Predigt zu Heb 4,15–16; 5

108 Judika, 26. März 2023, Frankfurt

Was meint der Apostel, wenn er davon redet, dass Jesus unser Hohepriester sei, der Gott Bitten und Flehen dargebracht hat und Gehorsam gelernt hat?

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
steht geschrieben im Brief an die Hebräer im 4. und 5. Kapitel.
Der Apostel schreibt:

14Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben,
Jesus, den Sohn Gottes,
der die Himmel durchschritten hat,
so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15Denn wir haben nicht einen Hohenpriester,
der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit,
sondern der versucht worden ist in allem wie wir,
doch ohne Sünde.

16Darum lasst uns hinzutreten
– mit Zuversicht –
zu dem Thron der Gnade,
damit wir Barmherzigkeit empfangen
und Gnade finden zu der Zeit,
wenn wir Hilfe nötig haben.

5,1Denn jeder Hohepriester,
der von den Menschen genommen wird,
der wird eingesetzt für die Menschen zum Dienst vor Gott,
damit er Gaben und Opfer darbringe für die Sünden.
2Er kann mitfühlen mit denen,
die unwissend sind und irren,
weil er auch selber Schwachheit an sich trägt. […]

7Jesus hat in den Tagen seines irdischen Lebens
Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen
dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte;
und er ist auch erhört worden,
weil er Gott in Ehren hielt.

8So hat er, obwohl er Gottes Sohn war,
doch an dem, was er litt,
Gehorsam gelernt.
9Und als er vollendet war,
ist er für alle, die ihm gehorsam sind,
der Urheber des ewigen Heils geworden.
2

Lasst uns beten: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht auf meinem Wege!
3 — Amen

Liebe Brüder und Schwestern!

(1) Gottesdienst

Ein Kriterium, das man für gute Predigten ansetzen kann, ist,
dass die Predigt etwas mit unserem Alltag,
unserer Lebendwirklichkeit
und unserer Erfahrung zu tun hat.
Jesus macht uns das vor
und verwendet ganz oft Bilder für seine Gleichnisse,
wo es um Landwirtschaft,
Weinbau
oder die Beziehungen von Geschäftspartnern geht.
Da muss ein Bauer entscheiden,
wie er mit dem Unkraut umgeht,
4
da baut sich ein Geschäftsmann einen Weinberg,
5
da übergibt jemand sein Vermögen an Knecht,
um es zu verwalten.
6

Der Apostel geht an unserer Stelle des Hebräerbriefes
einen anderen Weg.
Nicht der Alltag dient ihm als Material für seine Beispiele,
sondern der Festtag,
nicht das Geschäftsleben,
sondern der Gottesdienst.

Der Brief ist an eine Gemeinde gerichtet,
in der nicht mehr die allerersten Christen sitzen,
sondern die Generation ihrer Kinder und Enkel.
Und die fragen, genau, wie bei uns auch:

Sag mal Papa,
sag mal, Oma,
muss ich mit zur Kirche?
Kann ich nicht da hingehen,
wo alle anderen in meiner Klasse auch hingehen?

Das Anliegen des Briefes ist,
genau diese jungen Leute anzusprechen.
Der Apostel möchte sie daran erinnern,
warum sie an Jesus glauben.
Er möchte ihnen Mut machen,
ihre Hoffnung auf Jesus zu setzen,
auf ein Leben mit ihm
in seinem Reich.
7

Er benutzt dafür Bilder,
die aus dem Gottesdienst stammen,
insbesondere Erinnerungen
an den Gottesdienstes im Tempel in Jerusalem.

(a) Der Einzug

Der Apostel schreibt:

Wir haben in Christus einen Hohepriester,
den den Himmel durchschritten hat.
8

Der Hohepriester durchschreitet den Hof des Tempels
und verrichtet am Altar das Opfer.
Die Gemeinde schaut zu in dem Glauben,
dass das, was da geschieht,
der Wirklichkeit im Himmel entspricht.
Gott hat diesen Hohepriester beauftragt.
Das Opfer dient der Gemeinschaft zwischen Gott
und seiner Gemeinde.
9
Hier berühren sich Himmel und Erde
und wir können sehen, riechen und schmecken,
wie freundlich Gott auf uns schaut.

Genau das sehen wir an Jesus auch.
Er hat den Himmel durchschritten,
ist ein Mensch geworden, wie wir, –
mit Geburt, Leiden und Sterben.
Das hat er gemacht,
damit wir wissen,
wie sehr Gott diese Welt liebt.
10
Und er ist zurückgekehrt zur Rechten des Vaters,
um uns den Weg zu bahnen
und die Stätte zu bereiten.
11

In unseren Gottesdiensten kommt ab und zu ein Einzug vor.
Dann durchschreitet der Pastor
oder ein Gruppe von Menschen,
die am Gottesdienst beteiligt sind,
den Mittelgang der Kirche zum Altar.
Dabei kann ein Vortragekreuz zum Einsatz kommen.
Dem wendet sich die Gemeinde zu und sieht:
Christus,
der den Himmel durchschritten hat,
durchschreitet auch jetzt und hier unsere Kirche.
Jesus geht über unser Parket!
Er ist mitten unter uns.

Wir begrüßen ihn,
wie die Römer ihren Kaiser begrüßt haben:

κύριε ἐλείσον,
Herr erbarme dich!

Das ist das Bekenntnis,
an dem auch wir festhalten:
12

Christus ist der Herr!

Χρίστε ἐλείσον,
Christus, erbarme dich. —

Wir haben übrigens bald den nächsten Gottesdienst,
bei dem es einen Einzug geben wird:
die Osternacht.

Die brennende Osterkerze wird in die dunkle Kirche getragen.
Dann ist es ganz deutlich:

Christus ist das Licht!

Und er kommt hier zu uns
und macht unsere Dunkelheit hell.

(b) Das Abendmahl

Der Apostel schreibt weiter:

16Darum
(weil Gott in Jesus klar gemacht hat,
dass er Gemeinschaft mit uns will)
lasst uns hinzutreten – mit Zuversicht –
zu dem Thron der Gnade,
damit wir Barmherzigkeit empfangen […]

Wenn wir von Jesus als Hohepriester reden,
dann müssen die Gedanken einen Purzelbaum schlagen.
Denn das heißt ja,
dass er sowohl der Hohepriester ist,
der opfert,
als auch das Lamm,
das geopfert wird.
13

Wir kennen diese Bewegung vom Abendmahl.

In der Nacht, da der Herr verraten ward,
nahm er das Brot, dankte, brach es und sprach:
„Dies ist mein Leib, für euch gegeben“.

Jesus ist derjenige, der austeilt,
und er ist derjenige, der ausgeteilt wird.
14

Mir scheint das
eine ganz typisch christliche Vorstellung zu sein,
denn das geht gegen weltliche Logik.

  • Wir zahlen ein Darlehen in Raten ab.
  • Wir schenken immer mal eine Figur,
    bis die Sammlung vollständig ist.
  • Und so brauchen wir es auch.
    Wir lernen immer mal eine Lektion,
    bis wir zur Prüfung antreten können.

Bei Gott ist das anders.

  • Er spricht nur ein Wort
    und unsere Seele wird gesund.
    15
  • Er vergibt uns unsere Schuld
    und nichts steht mehr zwischen uns.
  • Er schenkt uns sein Wort zu einem unscheinbares Stück Brot
    und wir haben ihn ganz.

Dies sollen wir empfangen „mit Zuversicht“.
„Mit Selbstvertrauen“ könnte man auch übersetzen,
aber es ist natürlich kein Selbst-Vertrauen,
sondern Gott-Vertrauen.

Wir sollen an den Thron der Gnade treten,
an den Altar seiner Barmherzigkeit,
mit der Selbstverständlichkeit,
mit der man als Kind den Kühlschrank der Eltern aufmacht
und sich etwas zu essen ’rausnimmt.
Hier bin ich zu Hause.
Hier bin ich willkommen.

Kommt,
wir werden keinen leeren Kühlschrank vorfinden,
sondern einen gedeckten Tisch.
Der Gnadenthron ist nicht leer,
sondern darauf sitzt einer,
der mich kennt
und der mich trotzdem liebt,
16
einer, der helfen kann
zur rechten Zeit.
17

(2) Jesus lernt im Leiden Gehorsam

Liebe Gemeinde,
ich möchte noch einen Gedanken
zu unserem Abschnitt
mit euch teilen.

Das Denken des Hebräerbriefes ist recht speziell.
Jesus durchschreitet den Himmel
und zieht bei uns ein.
Er ist ein Hohepriester – 
und das ist kein Halbgott oder Übermensch,
sondern ein richtiger Mensch,
der unsere Schwachheiten teilt,
aber trotzdem nie von Gott getrennt ist.
Er ist ohne Sünde.

Jesus Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott.

Er ist der Hohepriester und das Lamm. –
Das ist sehr poetisches Denken und Sprechen.
Es spricht mich an.

Und dann schreibt der Apostel so was:

8Jesus hat, obwohl er Gottes Sohn war,
doch an dem, was er litt,
Gehorsam gelernt.

„Gehorsam“ – das ist ein schwieriges Wort.

Ich glaube,
bei diesem Gehorsam geht es nicht um Moral.
Es geht nicht einmal um die Gebote.

Wenn ich mich persönlich mal zum Maßstab nehmen darf:
Ich habe schon die größten Schwierigkeiten
mit dem ersten Gebot.
Aber mein wirklich tiefer Ungehorsam gegen Gott
sind nicht die Gebote,
sondern dass ich seinen Willen nicht annehmen kann.

Ich kann mich nicht abfinden damit,
was er mir zuteilt.

Ich schaue zurück mit Vorwürfen:

Hätte es nicht besser laufen können?
Hättest du mich nicht auf rechtem Weg führen können?

Ich schaue voraus mit Angst:

Wirst du da sein für mich?18
Wird alles gut werden?
Wirst du mich tragen?
Mich halten?

Ich habe eine Kindheit,
eine Jugend,
eine Blüten,
eine Reife,
einen Lebensabend,
ein Siechtum
und einen Tod.

Für jede dieser Stufen teilt Gott uns das Los zu.
Gehorsam ist, wenn wir wollen, was er will,
und annehmen, was er austeilt. –
Nein, das ist nicht einfach.

Doch wir haben einen Hohepriester,
der unsere Schwachheit kennt.
Jesus ist ganz Mensch – 
und auch in dieser Hinsicht
hat er für sich selbst keine Ausnahme gemacht.
Obwohl er der Sohn Gottes ist,
hat er Gehorsam gelernt,
an dem, was er litt.

Jesus hatte eine Kindheit,
eine Jugend,
eine Blüte,
eine Reife,
ein Leiden,
ein Kreuz
und einen Tod.

Ja, Vater, ja, von Herzensgrund,
leg auf, ich will dir’s tragen;
mein Wollen hängt an deinem Mund,
mein Wirken ist dein Sagen.
19

Unserem Herrn und Hohepriester Jesus Christus,
der Urheber unseres Heiles,
sei Lob und Ehre in Ewigkeit.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Der 10. Vers, der im ursprünglichen Zusammenhang die atl. Linie so schön auszieht, würde die Hörer hier nur fragend zurücklassen: „Wer ist dieser Melchisedek?“ Der König von (Jeru-) Salem mag mal Gegenstand einer eigenen Predigt werden; diesen Sonntag nicht. Das selbe gilt ja auch für die Fülle an Themen, die in Bezug auf diesen Abschnitt noch möglich gewesen wären.


3 Ps 119,105


4 Vgl. Mt 13,24ff.


5 Vgl. Mk 12,1ff.


6 Vgl. Mt 25,14ff.


7 Vgl. Erich Gräßer „An die Hebräer“, EKK, Bd. 1, S. 26: „Soteriologisch-paränetische Zielrichtung“. Diese Predigt versucht, einige von Gräßers Anregungen und Auslegungen z. St. aufzunehmen.


8 Heb 4,14


9 Vgl. Gräßer S. 273.


10 Vgl. Joh 3,16.


11 Vgl. Joh 14,2; Gräßer S. 315.


12 Vgl. Vers 14.


13 Ist das eine reentry-Figur? Ich bin nicht sicher.


14 Gräßer warnt davor, vorschnell Abendmahlstheologie in den Hebr zu projizieren, vgl. S. 260. Er verweist auf Hebr 13,9f, der in LUT86 sakramentstheologisch vereindeutigt bzw. entschärft ist. Da steht nicht „Speisegebote“, da steht βρώμασιν, „Essen (pl)“. Ich erlaube mir hier, die gelehrte Vorsicht des Exegenten hinter mein eigenes „soteriologisch-paränetisches“ Anliegen zurückzustellen, und hoffe Gnade zu finden in den Augen des auctor ad hebraeos, sollte er dies einst gegen mich in die Wagschale legen wollen.


15 Vgl. Mt 8,8.


16 „Wo ich auch stehe“ von Albert Frey, 1994.


17 Vgl. Vers 16; Gräßer S. 262.


18Will you be there?” Ja, Michael Jackson will man eigentlich nicht zitieren. Was der Chor da am Anfang singt ist aber Schiller/Beethoven: „Ihr stürzt nieder, Millionen? / Ahnest du den Schöpfer, Welt? / Such’ ihn überm Sternenzelt! / Über Sternen muss er wohnen“. Und dann kommt der Gospel-Chor und Jackson: “Hold me / Like the River Jordan / And I will then say to thee / You are my friend / Carry me / Like you are my brother / Love me like a mother / Will you be there?” (Album: Dangerous, 1991)


19 ELKG² 414,3 „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, Paul Gerhard, 1647.