Das Loch im Dach
Predigt zu Mk 2,1–12
Wenn man jemanden lieb hat, macht man schon mal ein Loch in ein Dach, um ihm zu helfen. Dies ist eine meiner Lieblingsgeschichten aus der Bibel: Vier Freunde tragen einen Gelähmten zu Jesus und als sie nicht zu ihm kommen durch den Haupteingang, machen sie ein Loch ins Dach, um ihn abzuseilen.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.1 Amen.
Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist das Evangelium, das wir gerade gehört haben.
Lasst uns beten:
Herr Jesus Christus,
sei unter uns im Heiligen Geist
und rede durch diese Predigt das Wort zu uns,
wie du es damals in Kapernaum getan hast;
segne alles Reden und Hören. — Amen
Liebe Brüder und Schwestern,
(Einleitung) ich habe eine klare Erinnerung,
wie ich diese Geschichte zum ersten Mal gehört habe:
Das war in der Grundschule
und unsere Lehrerin
hat uns ein Bild aus einer Kinderbibel ausgeteilt.
Auf dem Bild sieht man,
wie die Freunde das Dach abdecken.
Sie verwendeten dazu eine Platthacke.
Dieses Werkzeug kannte ich aus der Garage von meinem Vater.
Die Lehrerin hat uns dann erklärt,
dass die Dächer damals in Israel
mit Lehm und Stroh gedeckt waren.
Wenn man das weiß,
macht es auch Sinn,
dass sie das Dach „aufgraben“.
Ich fand das eine richtig gute Idee,
was die Freunde für den Gelähmten gemacht haben.
Wenn es so rum nicht geht,
gehen wir eben durch’s Dach.
Wie soll der Hausbesitzer das wohl gefunden haben?
Das geht eigentlich nicht,
aber wenn man jemanden lieb hat,
macht man schon mal ein Loch in ein Dach,
um ihm zu helfen.
Man muss sich das mal aus Jesus’ Perspektive vorstellen:
Er sitzt und hält einen Gesprächskreis.
Es tut dumpfe Schläge von oben.
Dann fängt es an zu rieseln
und gerade, als er dem Dreck aus dem Weg geht,
wird der Lahme durch das Loch hinabgelassen.
Er schwebt, Hintern zuerst, Jesus vor die Füße.
Dann kommt der erste Höhepunkt,
an dem ich halt machen möchte,
um näher hinzuschauen:
(1) Markus schreibt:
Als Jesus ihren Glauben sah,
sagte er zu dem Gelähmten:
„Kind, dir sind deine Sünden vergeben“.
„Als Jesus ihren Glauben sah“. –
Der Glaube der Gruppe zählt bei Jesus
–hier–
für den Einzelnen.
Wir wissen nicht,
was die Lähmung des Mannes verursacht hat.
Es könnte ein Unfall gewesen sein,
oder er war von Geburt an gelähmt.
Wir wissen es nicht.
Aber wir wissen,
dass seine Familie
und sein Freundeskreis zu ihm gekommen sind:
Hast du gehört?
In Kapernaum,
im Haus von Simon und Andreas,2
da ist dieser Jesus.
Er hat die Schwiegermutter von Simon gesund gemacht
und viele andere.
Und er hat böse Geister ausgetrieben
und vielen Kranken geholfen.
Das ist deine Chance!
Das ist eine Hoffnung für dich!
Und dann sind sie zusammen los
und haben ihn getragen
bis zu Jesus.
Sie hatten diese Hoffnung
und diesen Glauben gemeinsam.
Wir sind sehr daran gewöhnt,
den Glauben als eine Individuelle Sache zu sehen.
Das kommt schon vom Glaubensbekenntnis her:
Ich glaube an Gott den Vater,
den allmächtigen…3 usw.
Glaube ist individuell,
aber er ist immer auch kollektiv.
Das „große Glaubensbekenntnis“, das Nicaenum,
formuliert im Plural:
Wir glauben an den einen Gott…4
Glauben schillert zwischen „mir“ und „uns“,
zwischen „ich“ und „wir“.
Die Gemeinschaft der Glaubenden
ist die Kirche.
Das kann beengend auf einen wirken, –
wenn man meint,
der gemeinsame Glaube drücke sich darin aus,
dass man immer das richtige sagt.
Dann kann es passieren,
dass man sich nicht mehr traut,
Zweifel zum Ausdruck zu bringen.
Oder eigener, kreativer Ausdruck des Glaubens
wird kritisch beäugt
und ist tendenziell häretisch.
„Singet dem Herrn ein neues Lied“ –
aber: Von Johann Sebastian Bach!
Alles andere passt nicht zu uns!
„Das Ich des Credo ist die Kirche“5 –
Das bedeutet auch:
Ich muss das Credo nicht alleine glauben.
Der Glaube ist lebendig.
Er wächst und verändert sich mit der Zeit.
Die Haltung, mit der du das Glaubensbekenntnis sprichst,
wird sich ändern mit der Zeit.
Dinge, die du als Kind selbstverständlich geglaubt hast,
stellt deine Schulbildung irgendwann in Frage –
oder das Leben selbst.
Erwachsen werden heißt auch,
zu den Inhalten des Glaubens eine
- neue,
- reifere
- und vielleicht auch schwierigere Haltung zu finden.
Da ist es eine Erleichterung,
nicht alleine dazustehen,
sondern gemeinsam zu sagen:
Ich glaube…
- Bei manchen der Sätze, die dann kommen,
bist du vielleicht darauf angewiesen,
dass der Glaube der anderen dich trägt.
Bei manchen Sätzen ist es dein Glaube,
der den Glauben der Kirche stark macht,
jemand anderen zu tragen. - In manche Sätze hast du eine tiefe Einsicht
und kannst andere zur Erkenntnis führen,
- im Bibelkreis,
- bei einer Freizeit
- oder in einem persönlichen Gespräch zu Haus.
Manche Dinge sind für dich vielleicht dunkel
und du bist darauf angewiesen,
dass ein anderer sie dir erhellt.
Auf ganz ähnliche Weise trägt der Glaube seiner Familie
und Freunde
den Gelähmten zu Jesus.
Als er ihren Glauben sah,
sagte er zu dem Gelähmten:
„Kind, dir sind deine Sünden vergeben“.
Dieser Zuspruch
bringt einen Einspruch auf den Plan:
- Wie kann Jesus so etwas sagen?
- Kann nicht Gott, der eine,6 allein, die Sünden vergeben?
(2) Liebe Gemeinde,
was Jesus dann sagt,
ist der zweite Höhepunkt der Geschichte:
Der Menschensohn hat Vollmacht,
die Sünden zu vergeben auf der Erde.7
Liebe Gemeinde,
was Jesus hier sagt,
ist keine Kleinigkeit.
4Höre, Israel,
der Herr ist unser Gott,
der Herr ist einer.8
Wenn ein Mensch,
ein Menschensohn,
auch wenn er der Menschensohn ist,
die Sünden vergeben will,
stellt er in Frage,
ob Gott allein Gott ist.
Das ist nicht nur ein intellektuelles Problem,
weil die Philosophen nicht mehr wissen,
was das Erste Prinzip ausmacht,
oder wer der unbewegte Beweger ist.
Das „Höre Israel“ geht weiter mit den Worten:
5Du sollst den Herrn,
deinen Gott,
liebhaben
- von ganzem Herzen,
- von ganzer Seele
- und mit all deiner Kraft.
Diese Liebe ist,
was die ganze Existenz eines Menschen ausmacht,
- wie die Liebe deines Lebens,
- die Freundschaft deines besten Freundes
- oder die Geschäftsbeziehung zu deinem engsten Partner.
Gott ist einer
und diese Beziehung besteht zwischen Gott und dir.
Und hier stellt Jesus sich hin
und sagt:
Der Menschensohn hat Vollmacht,
– zu handeln als Gott –
und die Sünden zu vergeben.
Jesus „lästern“ in den Ohren der Schriftgelehrten,
weil er in Frage stellt,
dass Gott eins ist mit sich selbst –
und als Gegenüber.
Die Kirche hat später diese Spannung
in einem ihrer wichtigsten Glaubenssätze
aufgenommen:
in die Trinitätslehre.
Gott ist dreieinig,
Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Von Anfang an haben Kritiker dagegen gefrotzelt,
die Christen sollen sich doch mal entscheiden,
ob sie einen Gott hätten oder doch lieber drei.
„Nein“, sagt die Kirche dagegen,
„wir glauben an den einen Gott,
aber in dieser Paradoxie“.
Das Wort wurde Fleisch.
Jesus Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott.
- Das geht eigentlich nicht,
aber so hat Gott sich uns offenbart. - Das geht eigentlich nicht,
aber wenn man jemanden lieb hat,
macht man schon mal ein Loch in ein Dach,
um ihm zu helfen. - Gott hat ein Loch gegraben
in das Dach der Wirklichkeit,
damit du aus erster Hand erfährst:
„Ich liebe dich“.
„Dir sind deine Sünden vergeben“.
Um diese Predigt literarisch geschlossen wirken zu lassen, fehlt ihr eine recapitulatio, aber sie würde dem Evangelium am Schluss den Rang ablaufen und ich lasse sie daher aus.
Ich frage mich aber, ob ich damit die Chance zu einer Beicht-Paränese verspiele, zumal mit Rekurs auf (1): Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen ist Christus in der Welt existierend (Bonhoeffer) und besitzt (als solche) Vollmacht die Sünden zu binden und zu lösen. „Heute um 9.30 Uhr war Beichtandacht, da ist genau das geschehen. Nächsten Monat ist wieder eine. Kommet herzu!“ – Ob ich der Predigt einen derartig gesetzlichen Schluss verpasse, kann ich mir bis Samstag Abend noch überlegen.
Apropos „Gesetz“: Ich frage ich mich, ob ich unter (1) Gottes Anspruch, zu glauben und vom Glauben (nach außen!) Zeugnis zu geben. Der Aspekt der Verkündigung bleibt ja vollkommen unterbelichtet. Dieser Gedanken könnte für eine spätere Überarbeitung wichtig werden.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!9 Amen.
1 1.Kor 1,3
2 Vgl. Mk 1,29.
3 Siehe ELKG² S. 32 und S. 34.
4 Siehe ELKG² S. 35 und S. 33 Fn. 1.
5Joseph Kardinal Ratzinger: „Skandalöser Realismus“. Verlag Urfeld, Bad Tölz 2005. Das ist ein Zitat, das in diesem Heftchen wiedergegeben wird. Den Original-Kontext müsste ich nachschlagen.
6 Vgl. εἷς ὁ θεός, Vers 7.
7 Nach Vers 10.
8 Die Bedeutung schillert zwischen „ist einer“ und „allein“ und anderem.
9 Phil 4,7
Weitere Predigten zu 19. So. n. Trinitatis:
Bild und Wesen
Eph 4,22–32,
19. So. n. Trinitatis
Wenn Christenmenschen den „neuen Menschen“ anziehen, dann ist ihr inneres Wesen ein für alle Mal erneuert. Das glauben und bekennen wir von der Taufe. Warum liefert der Apostel dann eine Reihe von Regeln und Ratschlägen nach?