12:30

Das Scherflein der Witwe
Predigt zu Mk 12,41–44

91 8. So. n. Trinitatis, 7. August 2022, Frankfurt

Vor meinem inneren Auge war die Witwe immer alt. Aber ich mag den Gedanken, dass sie eine Frau mitten im Leben ist, die ihr ganzes Vertrauen auf Gott setzt.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
steht geschrieben beim Evangelisten Markus im 12. Kapitel:

41Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber
und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten.

Und viele Reiche legten viel ein.
42Und es kam eine arme Witwe
und legte zwei Scherflein ein;
das macht zusammen einen Pfennig.

43Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen:

Wahrlich, ich sage euch:
Diese arme Witwe
hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle [anderen],
die etwas eingelegt haben.
44Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt;
sie aber hat von ihrer Armut
ihre ganze Habe eingelegt,
alles, was sie zum Leben hatte.

Lasst uns beten:
Herr Gott, Heiliger Geist,
komm in unsere Mitte
und lasse Jesu Wort an seine Jünger
tief in unsere Herzen sprechen. — Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

(1) ganz klassisch ist dieser Abschnitt
in der Luther-Bibel
überschrieben mit:

„Das Scherflein der Witwe“.

Als Prediger stellt mich das vor die Herausforderung:

Welche Worte soll ich eigentlich zuerst erklären?

Scherflein gibt es schon lange nicht mehr
und selbst der Pfennig ist nicht mehr in Gebrauch.
Da kann ich auch gleich „λεπτός“ und „κοδράντης“ erklären:
Zwei Lepta sind ein Quadrans.
Das entspricht ungefähr dem,
was man für einen Tag an Lebensmitteln braucht.
Das ist sozusagen der Hartz-IV Tagessatz
für das antike Jerusalem.
So ähnlich ist die finanzielle Größenordnung.

Die arme Witwe stiftet nicht etwa
ihr ganzes Vermögen der Kirche,
und kriegt dafür von Jesus Applaus,
obwohl es wenig ist.

Wenn Jesus sagt,
die Witwe habe
„von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt,
alles, was sie zum Leben hatte“.
ist das im Griechischen ein einzelnes Wort:
ihr ganzes βίος habe sie eingelegt.
Das Wort βίος heißt zuerst mal „Leben“ –
und dann im übertragenen Sinne
„Vermögen“, „Lebenswerk“, „Lebensgrundlage“.

Das ist eine sehr schöne Doppeldeutigkeit:

  • Ja, die Witwe spendet Hartgeld,
  • aber darüber hinaus gibt sie ihr ganzes Leben Gott.

Jesus lobt sie nicht,
weil sie Geld gibt,
sondern weil sie Gott vertraut.

In der Antike gab es keine Sozialversicherung
und kein Arbeitslosengeld.
Wer kein Geld hatte,
sich etwas zu kaufen,
der hat gehungert.

Die Versorgung von Witwen ist in der Torah geregelt,
aber dazu musste der Zuständige das Geld übrig haben.
Die Witwe war wirtschaftlich vollkommen abhängig,
abhängig von Anstand oder Gnade ihrer Familie. —
Wenn eine Frau, der in solch einer Abhängigkeit lebt,
einen ganzen Tagessatz in den Gotteskasten wirft,
dann zeigt das ihren Glauben.
Die Witwe glaubt,
dass Gott treu ist,
dass er auch morgen für ihr „täglich Brot“ sorgen wird.
Das ist, was Jesus lobt.

Die Reichen sind unabhängig.
Die wissen, dass sie morgen essen werden.
Aus so einem „Überfluss“
kann jeder was in den Gotteskasten schmeißen,
aber aus solchem Mangel,
aus der puren Grundbedarfssicherung
2
etwas einzuschmeißen,
das belegt dein Vertrauen auf Gott.

(2) Liebe Gemeinde,
ich habe auf die Predigtmanuskripte für heute morgen
ein Bild abgedruckt aus dem 19. Jahrhundert.
Dieses Bild hat mir mein eigenes Vorurteil vor Augen geführt.
Vor meinem inneren Auge
war die „Witwe“ nämlich immer alt.
Die Witwe im Bild ist aber jung,
mit einem Baby auf dem Arm.
3

In meiner Welt sind Witwen immer alte Frauen,
aber in der Antike
sind Menschen viel öfter vor ihrer Zeit gestorben.
Die Witwe in unserer Geschichte
könnte durchaus eine junge Frau sein.

Ich finde den Gedanken toll:
Die Witwe ist jemand,
der mitten in Leben steht
und trotzdem
– mit ihrem ganzen Leben –
Gott vertraut.

Geld und Glauben sind sich ähnlich,
denn Geld ist auch immer eine Sache des Vertrauens:
Ich bringe meine Arbeitskraft auf den Markt
und habe Vertrauen darauf,
dass ich für das Geld, das ich kriege,
auch etwas kaufen kann:
- Lebensmittel,
- Dienstleistungen,
- Gegenstände des täglichen Bedarfs.

Woran du nun dein Herz hängst
und worauf du dich verlässt,
das ist eigentlich dein Gott.
4

Woher erwartest du das
- Gute,
- Wichtige,
- Richtige
in deinem Leben?
Woher meinst du, kommt dir Zukunft und Leben?

Als iTunes und Napster aufkamen,
begann der Niedergang der Plattenfirmen.
Als erstes haben sie die Grafik-Designer entlassen.
Neue und revolutionäre Plattencover
hat man nicht mehr riskiert,
sondern nur noch gewöhnliche.
Neue und experimentelle Musik wurde nicht mehr gewagt,
sondern nur noch das,
was letzte Saison auch funktioniert hat.
Deswegen klingen alle Popsongs gleich.
Man vermeidet neuen und kreativen Ausdruck,
weil alles Neue mit dem Risiko verbunden ist,
dass es scheitern könnte.
Man zieht sich auf das Gewohnte zurück,
weil es einem ein Gefühl von Sicherheit vorgaukelt.

Hollywood befindet sich im Niedergang.
Es gibt nur noch Filme,
die gewohnten, altbekannten Formeln folgen.
Zweite Teile,
Dritte Teile,
die Vorgeschichte des „Herr der Ringe“ als eigene Trilogie,
Matrix 4: „Action mit der Senioren-WG“:
Alle wollen den bestehenden Erfolg melken,
ohne ein Risiko einzugehen.

Die Kirche befindet sich anscheinend auch im Niedergang,
denn sie vermeidet neue Formen,
das Evangelium zum Ausdruck zu bringen.
Sie klammert an gewohnten Strukturen,
gewohnter Musik,
gewohnter Sprache.
Man zieht sich auf das Bekannte zurück,
weil es einem ein Gefühl von Sicherheit vorgaukelt.

Die Witwe tut das nicht.
sie legt ihr tägliches Brot,
ihr ganzes βίος in den Gotteskasten –
im vollen Vertrauen darauf,
dass Gott ihr morgen wieder Brot zu essen geben wird.

(3) Ihr lieben,
unsere Fähigkeit,
Altbekanntes und Gewohntes loszulassen,
wird lebenswichtig in Zeiten der Krise und des Umbruchs:

  • Die Altersverteilung unserer Gesellschaft verschiebt sich.
  • Corona hat uns unsere Grenzen gezeigt.
  • Unsere friedliche Weltordnung steht
    spätestens seit dem Krieg in der Ukraine
    in Frage.
  • Die Verschiebungen im Weltklima
    werden sich auch bei uns bemerkbar machen –
    nicht nur durch einen heißen Sommer.

Unsere weltlichen Instinkte
werden uns dazu verleiten,
nach dem Althergebrachten und Gewohnten zu greifen.
Auch wenn es längst nicht mehr taugt,
klammert man sich an das,
was man kennt,
denn es gibt einem ein Gefühl von Sicherheit:
- Alte Strukturen,
- alte Formeln,
- gewohnte Sprache.

Bei vielen dieser Dinge ist jetzt schon klar,
je früher wir loslassen,
desto besser.

Das ist genau das, was sie Witwe tut:
Sie wirft ihr Hartgeld in den Gotteskasten.
Das heißt, sie lässt die Sicherheit los,
die sie in der Hand hat,
und ergreift den Glauben.
Sie hofft auf die Güte Gottes.

Dieser ist Gott, unser Gott für immer und ewig.
Er ist’s, der uns führet.
5

heißt es im Eingangspsalm für heute morgen.
Wir sollen nicht das Neue ergreifen,
weil es neu ist,
sondern den Glauben,
weil er von Gott ist.

Gottes Güte —, Zugewandtheit — und seine Liebe zu uns
sind uns sichtbar und greifbar geworden in Jesus Christus.

Mein Vater hat gerne gesagt:

Jeder hat sein Kreuz zu tragen.
Und wenn wir sie alle auf einen Haufen legen würden,
würde sich jeder Mensch wieder genau das nehmen,
das er vorher hatte – weil er es kennt.

Lass das Kreuz liegen!
Das einzige Kreuz, das zählt, hat Jesus für dich getragen.
Du bist befreit.

Gott hat uns in Christus angenommen
und klargestellt,
dass wir ihm wertvoll und wichtig sind.
Er wird mit uns gehen.

Christus spricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.6

Christus geht mit uns auf dem Weg in die Zukunft.
Wir sind nicht alleine unterwegs,
bis an den Tag, da sein Reich kommt. — Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Für ὑστέρησις fällt mir kein besseres deutsches Wort ein, dass diesen Aspekt trifft; need im Englischen.


3 Sie ist auch der Jungfrau Maria nachempfunden, im blauen Kleid, mit der Haltung einer Madonna, uns als (Glaubens-)Vorbild hingestellt, vor dem Hintergrund röm.-kath. Marien-Frömmigkeit. Das tut hier aber nichts zur Sache.


4 Nach Luther, Große Katechismus, zum 1. Gebot, BSELK S. 932.


5 Vgl. ELKG² 54, aus Ps 48.


6 Mt 28,20b