Wider die Schafsköpfe unter den Hirten
Predigt zu Ez 34
Hesekiel ließt sich wie eine Politiker-Schelte: „Wehe den deutschen Politikern, die sich selbst bereichern“. Doch der Prophet ist selbst ein Priester. Seine Mahnungen richten sich an ein Wir, nicht an andere.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Gottes Wort an uns heute ist die alttestamentliche Lesung dieses Sonntags
im Buch des Propheten Hesekiel im 34. Kapitel:
Und des Herrn Wort geschah zu mir:
Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels,
weissage und sprich zu ihnen:
So spricht Gott der Herr:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden!
Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
Aber ihr esst das Fett
und kleidet euch mit der Wolle
und schlachtet das Gemästete,
aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.
Das Schwache stärkt ihr nicht
und das Kranke heilt ihr nicht,
das Verwundete verbindet ihr nicht,
das Verirrte holt ihr nicht zurück
und das Verlorene sucht ihr nicht; —
das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.
Und meine Schafe sind zerstreut,
weil sie keinen Hirten haben,
und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden
und zerstreut.
Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln
und sind über das ganze Land zerstreut
und niemand ist da, der nach ihnen fragt
oder auf sie achtet.
Darum hört, ihr Hirten, des Herrn Wort!
So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr:
Weil meine Schafe zum Raub geworden sind
und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere,
weil sie keinen Hirten hatten
und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten,
sondern die Hirten sich selbst weideten,
aber meine Schafe nicht weideten, —
darum, ihr Hirten, hört des Herrn Wort!
So spricht Gott der Herr:
Siehe, ich will an die Hirten
und will meine Herde von ihren Händen fordern;
ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind,
und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden.
Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen,
dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
Denn so spricht Gott der Herr:
Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen
und sie suchen.
Wie ein Hirte seine Schafe sucht,
wenn sie von seiner Herde verirrt sind,
so will ich meine Schafe suchen
und will sie erretten von allen Orten,
wohin sie zerstreut waren zur Zeit,
als es trüb und finster war. […]
Ja, ihr sollt meine Herde sein,
die Herde meiner Weide,
und ich will euer Gott sein, —
spricht Gott der Herr.
Lasst uns beten: Herr, unser Gott, wir danken dir für dein Wort. Öffne uns unsere Ohren und unsere Herzen, dass wir es hören und annehmen, damit wir glauben an Jesus Christus, unseren Heiland und Herrn. — Amen
Liebe Brüder in Christus, liebe Schwestern im Herrn!
Man könnte meinen,
Hesekiels Predigt sei eine Politiker-Schelte.
Die Hirten des Volkes Israel
bekommen von ihrem Gott die Leviten gelesen:
„Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden!“
Da möchte man sofort einstimmen
und mit Gottes Stimme sagen:
„Wehe den deutschen Politikern, die sich selbst bereichern!“
Mit solch einer „Predigt“
käme man bei jedem Stammtisch gut an!
Man darf aber nicht vergessen,
dass Hesekiel selbst Sohn eines Priesters ist.
Wäre er nicht mit der Elite nach Babylonien verschleppt worden, würde er am Altar in Jerusalem Dienst tun.
Hören wir Hesekiel gegen die Hirten des Volkes Israel reden, müssen wir ihn immer reden hören gegen ein Wir:
Wir Hirten haben versagt.
Uns sagt Gott die Wacht an.
Hesekiel spricht nicht als Außenstehender,
sondern als einer, der die Verantwortung der Hirten kennt
und teilt.
Diese Seite des Predigtwortes,
liebe Brüder und Schwestern,
ist für uns besonders wichtig.
Die Bierlaune des Stammtisches
lässt die Dinge ganz einfach aussehen:
„Die da oben haben versagt und wir müssen es ausbaden“.
Auch der Elfenbeinturm der Theorie bietet simple Feindbilder:
„Die besitzende Klasse beutet die Arbeiterklasse aus“.
Aber so einfach ist das aber nicht.
Der Lateiner weiß zu zitieren:
„Der Mensch ist des Menschen Wolf“.
Von Hesekiel aus gesehen müssen wir hinzufügen:
„Der Mensch ist des Menschen Hirte“.
Wir sind nicht einfach nur Beherrschte,
sondern wir herrschen auch.
Wir haben Macht über andere
und wir tragen an einander Verantwortung.
In der Familie sind wir
Kinder unserer Eltern
und
Eltern unserer Kinder.
Auf der Arbeit haben manche von uns
ganz ausdrücklich eine leitende Funktion:
- auf dem Bau der Polier,
- unter Tage der Steiger,
- in der Produktion der Schichtleiter.
Auch wer nicht ausdrücklich eine leitende Funktion innehat, leitet schon mal jemanden an.
Wenn du einen Neuling oder einen Azubi an die Hand kriegst, hast du Verantwortung:
So gut, wie du dem das zeigst,
wird der nachher seine Arbeit machen.
Manche von uns bringen sich ein in einem Verein:
Sportverein, Nachbarschaftsverein, Gesangverein.
Ein Verein muss gepflegt und gelenkt werden.
Eine Kirchengemeinde auch.
Wir haben
einen Kirchenvorstand
und die Gemeindeversammlung.
Dort übernehmen wir Verantwortung für das Ganze.
Wir tauschen Argumente aus und stimmen ab.
Eine Nummer größer funktioniert der Staat genau so.
Wir leben in einer Demokratie
und lenken den Staat durch Stellvertreter,
die wir wählen.
Aber auch jedes Gespräch unter Freunden und Kollegen,
in dem man eine Meinung äußert
oder (noch viel besser!) Argumente austauscht,
ist wichtige Teilnahme am politischen Geschehen.
Hier tragen wir Verantwortung für das Gemeinwesen,
für andere und auch für uns selbst.
Prinzipiell war das zu Hesekiels Zeiten nicht anders.
Selbst ein antiker König konnte nicht einfach machen,
was er wollte.
Er war angewiesen auf seine Fürsten.
Die waren wiederum angewiesen auf die Ältesten der Sippen.
Ein biblisches Beispiel dafür lässt sich nachlesen im 1. Buch der Könige ab dem 12. Kapitel. Da wird geschildert, wie der König Rehabeam die Weisheit seines Vaters Salomo mit Füßen tritt und seinen Fürsten mit unflätiger Geste seine Macht demonstrieren will. Die erklären flugs einen der ihren zum Gegenkönig und das Großreich Salomos zerfällt in einen Nord- und in einem Südteil. Eine Katastrophe!
Demokratie gab es im Alten Israel nicht.
Aber die Gesellschaft war in sich differenziert,
genau wie unsere auch.
Jeder Mensch damals war eines „Hirten“ „Schaf“ –
aber auch „Hirt“ für so manches „Schaf“.
Unsere Gesellschaft ist sicherlich noch komplexer.
Es gibt nicht immer ein eindeutiges Oben und Unten.
Trotzdem gilt, dass uns Macht zufällt
und wir anderen zu Hirten werden.
Hesekiel sagt:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden!
Die Milch genießt ihr, und mir der Wolle kleidet ihr euch […]
Die Herde weidet ihr nicht.
Hier steht kein Vorwurf, dass es ein Problem sei,
Milch und Wolle zu nehmen.
Aber es gibt ein Ideal der Gegenseitigkeit.
„Der Arbeiter ist seines Lohnes wert“
schreibt der Apostel Paulus an Timotheus.
Wir haben uns zu fragen, ob wir die,
die für uns arbeiten, fair entlohnen.
Die „Arbeiter“ können uns dabei räumlich recht nahe sein,
wie der Milchbauer, der im Preiskampf untergeht.
Sie können aber auch weit entfernt sein,
wie der Elektroniker,
der in China mein Handy zusammenschraubt
oder die Näherin die in Bangladesch meine Jeans fertigt. Obwohl ich sie nicht kenne,
habe ich plötzlich Macht über sie,
weil mein Konsumverhalten ihr Leben bestimmt.
Mit der Macht habe ich auch Verantwortung.
Hier kommt auch in den Blick, dass Arbeiter streiken dürfen, damit sie ihren Lohn einfordern können. – „Der Arbeiter ist seines Lohnes wert.“ – Wie reagierst du, wenn Lockführer streiken, und dich das in deinem Alltag behindert? Oder wenn Fluglotsen die Arbeit niederlegen und dein Urlaub einen Tag später anfängt, ohne einen Tag länger zu werden? Von Hesekiel her gesehen, ist es eine Schande, dass sich die „Schafe“ erkämpfen müssen, was ihnen von den Hirten zusteht, die ihre „Milch genießen“ und sich mit ihrer „Wolle kleiden“. Aber immerhin haben Arbeitnehmer heute eine rechtliche Grundlage, dies zu tun. Das ist ein hohes Gut!
Jeder und jede von uns ist vor Entscheidungen gestellt.
Auf der Oberfläche sind das Kauf-Entscheidungen.
Genauer betrachtet
sind es auch Entscheidungen der Nächstenliebe.
Der „Nächste“ in der Bibel ist der räumlich Nächste.
Er ist der „Nachbar“,
der nebenan wohnt und seinen Geschäften nachgeht;
die Menschen, also, mit denen man täglich zu tun hat.
In Zeiten der Globalisierung
hat man jeden Tag zu tun
- mit Elektronikern aus China,
- Näherinnen aus Bangladesch,
- Milchbauern von der Heide,
- Teepflückern aus Indien
- und Autoschraubern aus Wolfsburg oder Rüsselsheim.
Sie sind im globalen Dorf unsere Nächsten –
nicht weniger als der Klempner aus Achim
oder die Kassiererin bei Edeka, die in Delmenhorst wohnt. –
Jeder von uns trägt gegenüber Menschen,
ganz persönlich, eine Verantwortung der Nächstenliebe.
Hesekiel wirft den „Hirten Israels“ weiter vor:
Das Schwache stärkt ihr nicht,
und das Kranke heilt ihr nicht,
das Verwundete verbindet ihr nicht,
das Verirrte holt ihr nicht zurück,
und das Verlorene sucht ihr nicht;
das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.
Der Sozialstaat, Krankenkasse und Unfallversicherung:
Viel von dem, was Hesekiel hier von den Mächtigen fordert, haben wir in Deutschland staatlich und rechtlich organisiert. Nicht zuletzt an Stimmen,
wie der des Propheten haben wir verstanden,
dass diese göttlichen Forderungen
nicht auf freiwilliger Basis erfüllt werden,
sondern weltlich-gesetzliche Strukturen notwendig sind.
Christlich gesprochen sieht man daran,
dass der Mensch ein Sünder ist.
Wären unsere Augen und Herzen nicht von der Sünde zerfressen,
bräuchten wir keine Krankenversicherung,
sondern die Liebe würde derart überfließen,
dass wir einander so wahrnehmen und helfen würden.
Und wie groß ist die Versuchung, die hohen Lohnkosten einsparen zu wollen. — Jetzt will ich hier keine Moralpredigt gegen Schwarzarbeit halten. Es hat sicherlich ein Maß: Du kannst deinem Nächsten auch mal eine große Hilfe sein, wenn du ihm 100,- € in die Hand gibst, dafür, dass er dir eine Wand streicht. Wenn aber Formen der sogenannten „Neuen Ökonomie“ jeden zu einem Unternehmer erklären, hat das eine andere Qualität. Viele junge Leute betreiben ohne Sozial- und Krankenversicherung Raubbau am eigenen Körper und am eigenen Rentenanspruch. In einer solchen Gesellschaft sind alle Schafe. Sie wehren sich aber nicht gegen die Ausbeutung, weil sie ständig gesagt kriegen, sie seien Wölfe. Dadurch wird ihnen ein Balken vor die Augen geschoben, damit sie es nicht merken.
Die Gier des gefallenen Menschen kennt keine Grenzen. Habsucht und Geltungssucht,
die Sorge um den eigenen Bauch,
die Angst, zu kurz zu kommen,
kurz gesagt: die Sünde,
steht zwischen Mensch und Mensch –
und Gott und Mensch.
Unsere kulturellen Errungenschaften lindern bestenfalls die Not, die seit Adam über uns gekommen ist.
Erlösung bringen sie nicht.
Dieser Zustand erfordert tieferes Eingreifen.
Der Schöpfer selbst muss uns heilen.
Dies ist der Trost, den Hesekiel verkünden darf:
Gott selbst will sich seiner Herde annehmen,
indem er seinen Knecht auf Davids Thron setzt.
Ja, ihr sollt meine Herde sein,
die Herde meiner Weide,
und ich will euer Gott sein,
spricht Gott der Herr.
Diese Verheißung ist erfüllt worden,
auf unerwartete und unscheinbare Weise
in Jesus Christus.
Er ist der gute Hirte, auf den wir alle gewartet haben.
Er, der Ober-Hirte, ist zum ultimativen Schaf geworden.
Alle Macht und Herrlichkeit des Himmels
hat er hinter sich gelassen
und hat sich zu den Schafen unter das Messer gestellt.
Er ist Mensch geworden und hat
- Ausbeutung,
- Erniedrigung
- und Gewalt erlebt.
Er hat den Tod am Kreuz durchlitten
und ist zum Lamm Gottes geworden,
zum Opfer der Opfer.
Hier hat Gott am eigenen Leib klargestellt,
dass wirkliche Stärke
nicht im Herrschen ist, → sondern im Dienen,
nicht im Nehmen, → sondern im Geben.
Geldersparnis und Zeitoptimierung sind nicht der Maßstab für das Leben eines Christen. Wahres Leben, ewiges Leben, gibt es nicht für den, der zusieht, wo er bleibt, sondern für den, der sein Leben ganz auf Gott baut.
So ist es für Christus gewesen,
der als Sieger über den Tod aus dem Grab gestiegen ist.
So ist es auch für uns,
die durch die Taufe mit ihm verbunden sind.
Paulus kann sagen:
Ich lebe, doch nun nicht ich,
sondern Christus lebt in mir.
Denn was ich jetzt lebe im Fleisch,
das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes,
der mich geliebt hat
und sich selbst für mich dahingegeben hat.
Gier, Habsucht und Angst,
insbesondere die Angst, zu kurz zu kommen,
sind dadurch in den Schatten gestellt
und der Lächerlichkeit preisgegeben.
So ist Hesekiels Prophetie wahr geworden:
Aus allen Völkern hat er uns gesammelt.
Wir waren wie irrende Schafe;
nun aber sind wir bekehrt zu dem Hirten unserer Seelen.
Er stärkt uns, er heilt uns und verbindet uns.
Er macht uns stark, bis zum ewigen Leben.
Hier in der Welt empfangen wir von ihm,
dass wir unsere Sache gut machen können,
wenn wir unsererseits Hirten sind.
Alles was wir gut machen, machen wir gut,
weil Christus in uns lebt.
Selbst in unserem Scheitern
ist uns seine Vergebung nahe
und seine Barmherzigkeit trägt uns Tag für Tag.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus! Amen.
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