14:07

Selig ist das Lamm
Predigt zu Mt 5,3–10

130 Reformationstag, 31. Oktober 2023, Frankfurt

Ich nehme euch heute Morgen mit an die Waterkant, sieben Meilen von der See. Da steht im grünen Binnenland ein Haus an der Elbchaussee. Wir begleiten den Pastor und den Vikar zu einem Besuch.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist der Anfang der Bergpredigt,
die Seligpreisungen,
wie sie sich finden im Evangelium nach Matthäus im 5. Kapitel.

Ich werde sie im Laufe der Predigt vorlesen.

Lasst uns beten:
Herr, Gott, himmlischer Vater,
selig sind, die dein Wort hören und es halten.
Segne du alles Reden und Hören.
— Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

ich nehme euch heute Morgen mit an die Waterkant,
sieben Meilen von der See.
Da steht im grünen Binnenland
ein
Haus an der Elbchaussee.2

In dem Haus wohnt der Kapitän
und seit gut zwei Jahren
wohnt sein Sohn wieder bei ihm.
Der Sohn hat die Ausbildung zum Lotsen.
Er wollte nicht so viel abwesend sein wie der Vater.
Seine Ehe ist trotzdem zerbrochen
und er ist wieder in sein Elternhaus eingezogen.
Der Vater ist pflegebedürftig,
was der Sohn in Eigenleistung besorgt.
Die Stube wird von einem Pflegebett ausgefüllt;
wenigstens das hat die Versicherung bezahlt.

Letzte Woche hat der Kapitän seinen Sohn überrascht:
Er wolle, dass der Pastor kommt, Beichte, Abendmahl.

Was?
Red’ keinen Unsinn,
so weit ist es noch nicht!

Ja, doch, er hätte das gerne.

Weder Vater noch Sohn
sind seit der Konfirmation der Enkel
in der Kirche gewesen.
Der Lotse wusste das,
der Pastor wusste das
und der Lotse wusste, dass der Pastor das wusste … 
Jedenfalls:
Einen unangenehmen Anruf später stand der Termin für heute.

Ob der Vikar mitkommen dürfe?

Sicher, bring mal mit.

Pünktlich um drei Uhr klingelt es an der Haustür.
Die zwei Gottesmänner in schwarz
fliegen und flatterten durch das kleine Wohnzimmer.

Aus einem alten CD-Radio dudelt Hans Albers:

Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise,
auf die Reise in die weite, weite Welt.

Bis alle ihren Platz gefunden haben,
hat der Sohn den Kapitän im Pflegebett aufgerichtet
und die CD abgestellt.

Der Vikar übernimmt heute den Rahmen und die Predigt.
Nur die ordinationsgebundenen Teile macht der Pastor.
Die Seeleute wissen mit „ordinationsgebunden“
nicht viel anzufangen,
aber wenn der Pastor das sagt,
wird das schon seine Ordnung haben.

Eingangslied: „Gott ist gegenwärtig“.
Psalm,
Gebet,
die Beichtfragen:
Ob der Kapitän denn bekenne und bereue? — Jo.
Ob er die Vergebung begehre? — Jo.
Ob er denn glaube,
dass die Vergebung,
die der Pastor ihm zuspricht,
Gottes Vergebung sei?

Der Kapitän zögert.

Jo.

Da spricht ihn der Pastor frei, ledig und los:

Dir sind deine Sünden vergeben;
im Namen Gottes des Vaters,
des Sohnes
und des Hl. Geistes.

Amen.

Danklied –
und dann darf der Vikar seine Predigt vortragen:

Er lege uns heute das Evangelium aus,
Matthäus 5, Verse 3–10, die Seligpreisungen:

3Selig sind, die da geistlich arm sind;
denn ihrer ist das Himmelreich.

4Selig sind, die da Leid tragen;
denn sie sollen getröstet werden.

5Selig sind die Sanftmütigen;
denn sie werden das Erdreich besitzen.

6Selig sind,
die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit;
denn sie sollen satt werden.

7Selig sind die Barmherzigen;
denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

8Selig sind, die reinen Herzens sind;
denn sie werden Gott schauen.

9Selig sind die Friedfertigen;
denn sie werden Gottes Kinder heißen.

10Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden;
denn ihrer ist das Himmelreich.

Dann beginnt der Vikar
der „lieben Gemeinde“ zu erklären,
dass Seligpreisungen eine etablierte Gattung
aus der Weisheitslieteratur seien.
3
Man müsse sich vorstellen,
dass es in Israel Sprichworte gegeben hat,
die ungefähr so lauteten:

Selig sind die, die immer fleißig arbeiten,
denn sie werden im Leben Erfolg haben!

„Pah!“ sagt darauf hin der Kapitän:

Das stimmt nicht.
Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet
und wirklich selig bin ich dafür nicht geworden.

Der Vikar blickt von seinem Manuskript auf.
Normalerweise steht er ja auf der Kanzel
und schaut herab auf seine Zuhörer.

Doch er kann die Situation retten und sagt:

Das ist genau das Problem mit der Weisheit.
Der Tun-Ergehen-Zusammenhang funktioniert nicht.
Deswegen wurde die Seligpreisungen dann
eschatologisch neuinterpretiert.

„Hä??“

Ja, etwa so:
„Selig sind die Armen,
denn sie werden beim letzten Gericht Lohn empfangen“.

Jetzt meldet sich der Lotse von der gegenüberliegenden Bettseite:

So was wie:
„Besser arm zu sein,
als ein reicher Mann,
der wie ein Kamel vor dem Nadelöhr steht“?
4

„Ja, genau!“

Aber das ist doch auch nur eine Vertröstung.
Die Kirche erzählt den Armen,
sie sollen arm bleiben,
damit die Reichen ihre Ruhe haben!

Uhh… Mit marxistischer Kirchenkritik
hatte der Vikar nicht gerechnet.

Der alte Mann in seinem Pflegebett strahlt.
Er hat sichtlich Spaß daran,
dass sein junger Besucher aus der Reserve gelockt wird.

Der Vikar schlägt sich tapfer.
Er erklärt:

Der Mangel
und die Tugenden,
von denen hier die Rede ist,
„haben ihren gemeinsamen Grund
im Ruf und der Verheißung Christi“.
5
Der Sohn Gottes ruft sie in die Nachfolge
und er verheißt ihnen das Himmelreich.

Das hat Bonhoeffer gesagt.6

„Und jetzt?“ fragt der alte Kapitän.

Da weiß der junge Theologe nicht mehr weiter.
In jedem zweiten Seminar,
das er besucht hat,
waren die Worte
„Bonhoeffer hat das gesagt“
vollkommen ausreichend,
um eine Streitfrage zu klären.

Der Kapitän lacht:

Was will ich denn mit dieser ausgelutschten Welt?
Was ist die schon wert?

Der Vikar schaut zum Pastor. —
Der zitiert langsam die Offenbarung des Johannes:

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde;
denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen,
und das Meer ist nicht mehr.
7

Und der Pastor deutet:

Jesus spricht die selig,
von denen man es nicht erwartet.
Er spricht sie jetzt-und-hier selig, denn:
„Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“
8

Wo Jesus ist, da ist das Himmelreich.

„Ja?“ – Über das Sterbebett seines Vaters hinweg
schaut der Lotse dem Pastor direkt ins Gesicht.

Wo war Jesus, als ich ein Kind war,
und mein Vater war nie da?

Wo war Jesus,
als meine Ehe gescheitert ist?

Herr Pastor,
wenn es Jesus wirklich gibt,
warum wohnt er nicht mal hier in diesem Haus?
Warum kommt er nicht mal zu uns? —

Hörbar scharf und tief atmet der Vikar ein.
Er hat ganz viel zu erklären über lutherische Dogmatik,
über Dinge wie „Inkarnation“ und „Realpräsenz“.

Zum Glück legt ihm sein Mentor die Hand auf den Arm.

Lass uns Abendmahl feiern.

Na gut.
Der Vikar packt sein Manuskript in die Tasche
und sie singen ein Lied zur Bereitung.
Dann feiern sie das Hl. Abendmahl.
Gesprochene Liturgie.
Der einzige Teil, den sie singen,
ist das
Nunc Demittis:

Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren,
wie du gesagt hast;
denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen,
den du bereitet hast vor allen Völkern;
ein Licht zu erleuchten die Heiden
und zum Preis deines Volkes Israel.
9

Der Pastor spricht den Segen:

Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang
von nun an bis in Ewigkeit.
10

Dann ist die Besuchszeit zu Ende.
Vikar und Pastor beginnen zu gehen.

Der Lotse kurbelt das Pflegebett wieder in die Liege-Position.
Sein Vater schaut zu ihm auf:

„Denke mein Jung“.

„Dafür nich’“.

Im Rausgehen drückt er auf den Knopf vom CD-Spieler.
Der Blonde Hans singt da weiter, wo er aufgehört hatte:

Fährst du heim, Kapitän, fahr’n wir gerne
mit nach Hamburg, zu Muttern nach Haus’.

Der Sohn verabschiedet die Geistlichen an der Haustür.

„Sie haben sich gut geschlagen, Herr Vikar“.

„Äh… danke. Bis zum nächsten Mal im Gottesdienst“.

„Hmhm“.

Als der Lotse wieder in die Stube kommt,
liegt sein Vater ganz still.
Der Kapitän hat im Heimathafen festgemacht.

„Selig sind,
die zum Hochzeitsmahl des Lammes berufen sind“.
11

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!12 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Nach Fritz Graßhoffs Text zum Lied „Nimm mich mit, Kapitän, auf die Reise“.

Die Handlung des narrativen Rahmes, insb. einige Rückfragen von Figuren, sind angelehnt an das Lied „All this time“ von String, aus seinem Album „The Soul Cages“, 1991.


3 Der Vikar hat Ulrich Luz gelesen, EKK z. St. S. 272.


4 Mt 19,24 par.


5 DBW 4, S. 100.


6 Damit gerät der Vikar in die Gefahr, Bonhoeffers Anliegen in der „Nachfolge“ ethisch zu verkürzen. Erhellend in Bezug auf die Auslegung Matthäus’ fand ich Luz’ Ausführungen zum Abschnitt Mt 5,3–12, in der er römischer und lutherisch geprägter Deutungen und „Gnadenlehre“ bespricht, EKK, S. 292ff.


7 Offb 21,1


8 Mt 4,17; vgl. Luz, EKK, S. 273 („von denen man es erwartet“) und 280f zum Himmelreich als „Klammer“ unter Aufnahme von Mt 4,17.


9 ELKG² 252, Lk 2,29–32.


10 Psalm 121,8


11 Offb 19,9


12 Phil 4,7


Manuskript zum Ausdrucken pdf, 476 KB)

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