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Die Asymmetrie von Zorn und Gnade
Predigt zu Apg 12,1–11

127 16. So. n. Trinitatis, 24. September 2023, Frankfurt

Gottes Zorn währet einen Augenblick, aber lebenslang seine Gnade. Gottes Zorn ist ein Tropfen, Gottes Gnade ist ein Ozean.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist der Bericht des Evangelisten Lukas über die Befreiung des Apostels Petrus aus dem Kerker des König Herodes.

Da dieser Abschnitt recht lang ist,
bitte ich die Gemeinde,
sich zu setzen.

Er ist aufgeschrieben in der Apostelgeschichte im 12. Kapitel:

12,1Um diese Zeit
legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde,
sie zu misshandeln.
2Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes,
mit dem Schwert.
3Und als er sah, dass es den Juden gefiel,
fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen.
Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote.
4Als er ihn nun ergriffen hatte,
warf er ihn ins Gefängnis
und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten,
ihn zu bewachen.
Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen.

5So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten.
Aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.

6Und in jener Nacht,
als ihn Herodes vorführen lassen wollte,
schlief Petrus zwischen zwei Soldaten,
mit zwei Ketten gefesselt,
und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis.

7Und siehe, der Engel des Herrn kam herein,
und Licht leuchtete auf in dem Raum;
und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach:

„Steh schnell auf!“

Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen.
8Und der Engel sprach zu ihm:

„Gürte dich und zieh deine Schuhe an!“

Und er tat es. Und er sprach zu ihm:

„Wirf deinen Mantel um und folge mir!“

9Und er ging hinaus und folgte ihm.

Und er wußte nicht,
dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel,
sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen.
10Sie gingen aber durch die erste
und zweite Wache
und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt;
das tat sich ihnen von selber auf.

Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit,
und alsbald verließ ihn der Engel.

11Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er:

„Nun weiß ich wahrhaftig,
dass der Herr seinen Engel gesandt
und mich aus der Hand des Herodes errettet hat
und von allem, was das jüdische Volk erwartete“.

Lasst uns beten:
Herr, öffne mir die Herzenstür,
zieh mein Herz durch dein Wort zu dir,
lass mich dein Wort bewahren rein,
lass mich dein Kind und Erbe sein.
2— Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

der Eingangspsalm zu einem Gottesdienst
hat oft die Funktion einer Überschrift oder eines Leitmotivs.
„Im Anfang steckt das Ganze“.
Hier wird die Stimmung und das Thema für den ganzen Gottesdienst gesetzt.

Ich möchte einen Gedanken aus unserem Eingangspsalm heute an den Anfang der Predigt setzen.
Ich finde ihn besonders bemerkenswert.

Der Psalmist schreibt:

Gottes Zorn währet einen Augenblick,
aber lebenslang seine Gnade.
3

Es fällt einem nicht sofort auf,
aber dieser Vers hat eine Logik,
die nicht „mathematisch korrekt“ ist.
Man würde ja meinen,
man kann
entweder unter Gottes Zorn
oder unter Gottes Gnade leben.
Meine Lebenszeit müsste aufgeteilt sein zwischen
Zeiten des Zorns
und Zeit der Gnade.

Der Psalm lautet aber:

Gottes Zorn währet einen Augenblick,
aber
lebenslang seine Gnade.

„Lebenslang“ ist schon 100% meines Lebens.
Die Augenblicke des Zorns ziehen nichts davon ab!
Mein Leben –mein ganzes Leben!– steht unter Gottes Gnade.

Auch wenn mich Angst beschleicht
oder eine Krankheit mich quält,
wenn Streit mich entzweit von meinem Nächsten
oder die Sünde mich trennt von Gott —
100% meines Lebens sind unter Gottes Gnade.

Gottes Zorn und Gottes Gnade sind ein Paar,
aber die Gnade ist immer Größer als der Zorn,
ja der Zorn ist immer gefasst und durchdrungen von Gnade.
4

An diesem Gedanken orientiert,
möchte ich drei Geschichten
vor unserem geistigen Auge übereinanderlegen:

(1)Erstens, die Geschichte vom Auszug aus Ägypten,
die Nacht des Passa,
in der die Israeliten sich vorbereiten auf den Aufbruch.

(2)Zweitens die Befreiung des Petrus’ aus dem Gefängnis,
wie wir sie gerade gehört haben.

(3)Und drittens möchte ich fragen,
ob wir eine Übereinstimmung mit unserem Leben,
mit
unserer Lebensgeschichte,
finden können.

(1) Liebe Gemeinde,
die Israeliten in Ägyptenland sehen sich selbst unter dem Zorn Gottes.

Einst sind Jakob
und seine Söhne vor einer Hungersnot nach Ägypten geflohen.
Dort haben sie
Josef wiedergetroffen,
von dem sie lange dachten, dass er tot sei.
Mit seiner Unterstützung haben sie sich in Ägypten angesiedelt.

Das war dann viele Generationen her
und der neue König von Ägypten hatte vergessen,
wer Josef war.
5
Die Israeliten waren stark und geschickt.
Deshalb fürchteten die Ägypter,
dass diese Ausländer ihr Land übernehmen würden.
Der Pharao hat ihnen Frondienste auferlegt.
Ziegel mussten sie streichen und harte Arbeit verrichten.

In dieser Situation beteten die Israeliten zu Gott.
Und Gott hat ihnen geantwortet,
indem er ihnen Moses schickt.
Gott sagte ja zu Mose:

Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen
und ihr Geschrei über ihre Bedränger gehört;
ich habe ihre Leiden erkannt.
6

Gott hört auf das Gebet seines Volkes.

Die Befreiung aus Ägypten geht so richtig los
mit einem Abendessen. —
Im 2. Buch Mose
gibt Gott sehr genaue und konkrete Anweisungen,
wie die Israeliten den letzten Abend vor dem Aufbruch gestalten sollen.
Noch heute feiern die Juden das Passafest
und halten sich an diese Anweisungen.
Gegürtet und mit Schuhen an den Füße soll man essen,
zum Aufbruch bereit, bereit zum Ausbruch aus Ägypten.
Das ist die Nacht der ungesäuerten Brote,
in der der Würgeengel umhergeht
und den Ägyptern die Erstgeborenen nimmt,
damit der Pharao endlich nachgibt
und Gottes Volk gehen lässt.

Zorn und Gnade –
auch in einer Situation großer Gefahr sorgt Gott für sein Volk. Auch in der Ungewissheit des Aufbruchs aus Ägypten ist Israel in Gottes Gnade geborgen.

(2) Es ist diese Geschichte,
liebe Brüder und Schwestern,
die jedem in der Jerusalemer Gemeinde vor Augen war,
als Petrus im Gefängnis saß.
Die meisten der Gemeindeglieder waren Juden-Christen
und sie werden das Passafest von Kind auf gekannt haben.
Die Christen in Jerusalem werden es bestimmt gefeiert haben

Lukas schreibt ja ausdrücklich:

Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote.7

Es ist, als wolle der Evangelist sagen:

„Das ist unser Passa-Wunder!
An dem Tag, als Gott Israel aus Ägypten befreit hat,
hat er unseren Bruder Petrus aus dem Gefängnis befreit!“

Mit dieser Geschichte überliefert uns Lukas ein Zeugnis,
dass Gott die Gebete der Gemeinde erhört,
denn die Jerusalemer Christen
hatten ja beständig zu Gott gebetet!
8

Wie sehr
müssen sie sich unter dem Zorn Gottes gesehen haben,
als Jakobus getötet wurde.
Und dann wurde auch noch Petrus gefangengenommen.
Doch sie durften erfahren,
dass sie in allen diesen Dingen
immer unter der Gnade Gottes stehen.

Gott hat Petrus einen Engel in den Kerker geschickt
und Lukas schreibt:

Der Engel stieß Petrus in die Seite und weckte ihn.9

Er stieß ihn „in die Seite“? Wohl mit dem Fuß!
Das ist schon ziemlich unsanft.

Es mag Quatsch sein,
aber mir gefällt der Gedanke,
dass Gott den selben Engel geschickt hat,
den er einst in dieser Nacht geschickt hat,
den Ägyptern die Erstgeborenen zu nehmen:
Den härtesten Feldwebel im göttlichen Heer,
den, auf den er sich verlassen kann.

Der Engel weckt den Petrus mit der Fußsole:

„Aufstehen!
Gürte Dich!
Schuhe an!
Mantel!
Abmarsch!“

Dann führt er ihn durch die Wachen
und das Tor
wie die Feuersäule die Israeliten
durch das Rote Meer geführt hat.
Und Petrus weiß nicht, wie ihm geschieht!

Ich glaube, dieser Gedanke,
dass es der selbe Engel ist,
gefällt mir so gut,
weil dieses Bild
die Gleichzeitigkeit von Zorn und Gnade in sich hat.

Lukas selbst setzt schon diesen Ton,
dieses Unsanfte an dem Engel. –
Wie wird das für Petrus gewesen sein,
in diesem Knast zu sitzen?
Er muss damit gerechnet haben,
am nächsten Tag den Weg des Herrn Jesus zu gehen.
Er hätte durch einen Schauprozess zum sicheren Tot geführt. Wie sehr muss er sich unter dem Zorn Gottes gesehen haben!

Und seine Befreiung ist eine wunderbare Gnade
und ein gnadenhaftes Wunder!
Beides ist gleichzeitig da,
aber die Gnade ist so viel größter als der Zorn.

(3) Ihr lieben,
zum Abschluss möchte ich fragen,
wo es in unserem Leben vorkommt,
dass wir Zorn und Gnade erleben.

Zorn ist einfach.
Ich denke, wir alle haben,
je auf eigene Weise Dinge erlebt,
die nicht so angenehm waren,
bestimmt auch Dinge,
von denen man Gott fragen kann: „Warum?“

Bei Gnade wird es schon schwieriger.
Es würden mir Momente einfallen,
in denen Gott mir die Augen geöffnet hat.

Aber wenn ich aber ehrlich bin,
ist sie doch sehr viel weniger spektakulär,
als das, was wir heute in der Bibel gelesen haben.
Es kommt kein Engel darin vor,
und so ein „richtiges“ Wunder fehlt.
Gott hat nicht „mal eben“ die Naturgesetze außer Kraft gesetzt oder das Unmögliche möglich gemacht.

Oder vielleicht doch?

Ich hatte mal ein Erlebnis,
wo ich dachte, dass Gott
doch Wunder wirkt:
Ich war ja im Urlaub in Witten.
Und wenn ich in Witten bin,
versuche ich immer Zeit einzuplanen
für einen Freund aus der Gemeinde,
der es nicht so ganz leicht hat im Leben.
Er war zu der Zeit wieder auf Droge
und er ist schwer zu erreichen,
weil er natürlich kein Geld hat für sein Telefon.
Er gibt es ja für Drogen aus!

An einem der letzten Tage wollte ich zu meiner Mutter.
Ich wurde aber aufgehalten.
Da war ein Computer-Problem
und ich meinte,
dass ich das recht schnell lösen kann
und habe dann noch so zwei Stunden damit verbracht,
obwohl ich gar nicht wollte.

Jedenfalls war ich dann auf dem Weg durch die Stadt
und sehe an der Ampel meinen Freund auf dem Bürgersteig.
Ich mach das Fenster ’runter und rufe ihn.
Wir verabreden uns in einer Seitenstraße
und ich habe eine Chance mit ihm zu reden,
gucken, wie’s ihm geht,
ihm eine Pizza auszugeben.

Ein Wunder!
Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn noch zu treffen.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit,
dass wir uns über den Weg laufen?
Zugegebenermaßen ist auch dieses Wunder nicht spektakulär.
Eher ein „Wunderchen“!
Und für einen ungläubigen Betrachter sieht es aus wie Zufall!

Aber, ich glaube daran, dass Wunder geschehen, jeden Tag!
Vielleicht hat Gott ja einen Engel losgeschickt,
um dieses Computer-Problem zu generieren.
Vielleicht hat er mich gezielt zwei Stunden später losgeschickt,
damit ich im richtigen Moment
an der richtigen Ampel zu stehen.
Vielleicht war ich meinem Freund an diesem Tag der Prophet,
der zusieht, dass er was zu essen kriegt,
und der ihm das Wort Gottes ansagt:

Bei all dem Zorn, den du in deinem Leben erfahren hast,
ist doch dein ganzes Leben von der Gnade Gottes umfangen!

Gottes Zorn währet einen Augenblick,
aber lebenslang seine Gnade.
10

Das galt für Israel in Ägypten,
das galt für Petrus im Kerker
und es gilt auch für dich, hier und jetzt.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!11 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 ELKG 144,1


3 Ps 30,6 Im alten ELKG war dieser Vers Teil des Introitus.


4 Das Gesetz ist Gottes Werk, aber sein opus alienum, sein fremdes Werk, welches für sein eigentliches Werk, das opus proprium des Evangeliums vorbereitet. Diese Unterscheidung geht auf Luther zurück. (Formulierung nicht von mir?)


5 Ex 1,8


6 Ex 3,7 (Hier würde schön Hinpassen: Ex 3,14f, die (Volks-) Etymologie von JHWH: Und Gott lässt Moses seinen Namen wissen, damit er den Israeliten sagen kann, mit wem sie es zu tun haben: So sollst du zu den Israeliten sagen: „Ich werde sein“, der hat mich zu euch gesandt.)


7 Vers 3.


8 Vers 5.


9 Vers 7.


10 Ps 30,6


11 Phil 4,7


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