14:58

Der Gotteskampf am Jabbok
Predigt zu Gen 32,23–33,3

113 Quasimodogeniti, 16. April 2023, Frankfurt

Die Bibel erzählt die Geschichte der Vorväter nicht als eine lupenreine Heldengeschichte. Viel mehr geht es hier um echte Menschen mit echten Probleme. Sie leben in einer ganz anderen Zeit und Welt als wir, aber das, was sie umtreibt, unterscheidet sie mitunter kaum von uns.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
steht im Buch Genesis im 32. und 33. Kapitel.
Es ist die Geschichte von Jakobs Kampf mit Gott
und wie er sich mit seinem Bruder versöhnt.
Ich werde den Abschnitt im Verlaufe der Predigt vorlesen.

Lasst uns beten:
Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege!
2 — Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

(1) wir betrachten heute Morgen die Geschichte
von Esau und Jakob.
Das sind die Söhne von Isaak, Abrahams Enkel.
Die beiden haben es nicht leicht miteinander,
von Anfang an.

Die Bibel erzählt die Geschichte der Vorväter
nicht als eine lupenreine Heldengeschichte.
Viel mehr geht es hier um echte Menschen
mit echten Probleme.
Sie leben in einer ganz anderen Zeit und Welt als wir,
aber das, was sie umtreibt,
unterscheidet sie mitunter kaum von uns.

Der Volksmund sagt:

Wenn’s ans Erben geht, lernt man seine Verwandten kennen.

Viele von Euch werden diesen Spruch nachvollziehen können,
entweder aus eigener Anschauung
oder sogar aus eigener Erfahrung.

Vielleicht habt ihr auch schon Geschwister untereinander sagen hören:

Wo warst du, als ich die Eltern gepflegt habe?

Oder ihr habt zwei gestandene Menschen im Rentenalter
voreinander stehen sehen,
von denen der eine sagt:

Mama hatte dich schon immer viel lieber als mich!

Als wäre er acht Jahre alt – und sein Gegenüber zwölf.

Solche tiefen, alten Verletzungen
stehen zwischen Jakob und Esau.

Jakob hatte es geschafft,
dem Esau das Erbe abzuschwatzen.
Der sagte nur:

Sterben werde ich so wie so, aber jetzt habe ich Hunger!

und unterschrieb den Erbverzicht für ein Linsengericht.3
Solche Sachen macht man schon mal,
wenn man jung ist.

Es geht aber nicht nur ums Geld.
Auch den Segen des Vaters hat sich Jakob erschlichen. —
Rebekka hatte den Jüngeren Bruder
auf den Erstgeburtssegen angesetzt.

Wie sollte Esau sich da fühlen?
Es muss ihm doch klar geworden sein,
dass die eigene Mutter glaubt,
Gott würde Jakob lieben,
und ihn, Esau, hassen.
4

Esau schrie laut, als er das merkte.5

Und er war Jakob gram um des Segens willen,
mit dem ihn sein Vater gesegnet hatte,
und sprach in seinem Herzen:
„Es wird die Zeit bald kommen,
dass man um meinen Vater Leid tragen muss;
dann will ich meinen Bruder Jakob umbringen.“

Da floh Jakob vor seinem Bruder.

(2) Jakob blieb lange im Ausland.
Er gründete eine Familie
und hatte wirtschaftlichen Erfolg.
Doch er wusste auch,
dass er um diese Sache nicht drumherum kommt.
Er würde sich seinem Bruder stellen müssen. —

Jakob macht sich also auf den Weg
mit seinen Frauen,
seinen Nebenfrauen,
elf Söhnen und einer Tochter,
dazu große Herden von wertvollem Vieh,
bewacht und versorgt
von Knechten und Mägden in seinem Dienst.
Der prächtige Reichtum eines Nomaden-Fürsten!

Jakob steht an der Schwelle zu seinem Heimatland.
Er teilt seinen Besitz strategisch in zwei Lager,
denn er fürchtet Gewallt von seinem Bruder.
Jakob betet so:

Herr, ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die du an deinem Knechte getan hast;
denn ich hatte nicht mehr als diesen Stab,
als ich hier über den Jordan ging,
und nun sind aus mir zwei Lager geworden.

Errette mich von der Hand meines Bruders,
von der Hand Esaus;
denn ich fürchte mich vor ihm,
dass er komme und schlage mich,
die Mütter samt den Kindern.

Du hast gesagt:
„Ich will dir wohltun
und deine Nachkommen machen wie den Sand am Meer,
den man der Menge wegen nicht zählen kann.“

Jakob behaftet Gott bei dem Versprechen,
das er ihm gegeben hat. —

Der Übertritt über den Fluss
ist eine logistische Herausforderung.
Es gab ja keine Brücken,
sondern man sucht sich eine untiefe Stelle,
eine Furt,
und hofft,
dass die Strömung nicht zu stark ist.
Das ist hoch-riskant
und alle Entscheidungen sind Chefsache.
Alles, was jetzt kommt,
steht direkt in Jakobs Verantwortung.
Er ist der Erste, der den Fluss überquert,
mit der ersten Gruppe,
und der Letzte, der den Fluss überquert
bei der letzten Gruppe.

Die Bibel berichtet das so:

23Und Jakob stand auf in der Nacht
und nahm seine beiden Frauen
und die beiden Mägde
und seine elf Söhne
und zog an die Furt des Jabbok,
24nahm sie und führte sie über das Wasser,
so dass hinüberkam, was er hatte,
25und blieb allein zurück.

Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.
26Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte,
schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte,
und das Gelenk der Hüfte Jakobs
wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt.

27Und er sprach:
„Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an“.
Aber Jakob antwortete:
„Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“

28Er sprach: „Wie heißt du?“
Er antwortete: „Jakob“.
29Er sprach: „Du sollst nicht mehr Jakob heißen,
sondern Israel;
denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft
und hast gewonnen“.
30Und Jakob fragte ihn und sprach:
„Sage doch, wie heißt du?“
Er aber sprach:
„Warum fragst du, wie ich heiße?“
Und er segnete ihn daselbst.

31Und Jakob nannte die Stätte Pnuël;
„denn“, sprach er, „ich habe Gott von Angesicht gesehen,
und doch wurde mein Leben gerettet“.

32Und als er an Pnuël vorüberkam,
ging ihm die Sonne auf;
und er hinkte an seiner Hüfte. […]
6

33,1[Und] Jakob hob seine Augen auf
und sah seinen Bruder Esau kommen
mit vierhundert Mann. […]
7

3Und Jakob neigte sich siebenmal zur Erde,
bis er zu seinem Bruder kam.

4Esau aber lief ihm entgegen
und herzte ihn
und fiel ihm um den Hals
und küsste ihn,
und sie weinten.

(3)8Liebe Gemeinde,
Gebetserhörung kann sehr unterschiedliche Formen annehmen.

Herr, errette mich von der Hand meines Bruders,
von der Hand Esaus;
denn ich fürchte mich vor ihm.

Gott hätte mit einem äußerlichen Wunder antworten können:
- Esau wird krank oder stirbt.
- Jakob bekommt übermenschliche Kräfte.
Doch Gottes Gegenwart in unserem Leben
macht etwas mit uns.

Gott hat sich dem Jakob in den Weg gestellt
und er hat ihn geschlagen.
Es ist gerade dieser Schlag,
der Jakob errettet aus der Hand seines Bruders.

Jakob hinkt an der Hüfte. —
Er humpelt auf seinen Bruder zu
und Esau sieht –
vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben –
seinen Bruder als Mensch.

Und da sieht er viel mehr,
das sie verbindet,
als was sie trennt.
Sie sind ja Zwillinge.

Er sieht den mit-fünfziger,
die ersten Falten im Gesicht;
er sieht seine prächtige Familie,
was er geleistet hat,
was er erworben hat.

Er sieht aber auch,
dass ihn das Leben gezeichnet hat,
dass ihn das Leben geschlagen hat,
dass der auch die erste Packung Pillen
auf dem Nachttisch liegen hat,
von denen er jeden Abend eine nehmen muss,
damit die körperlichen Funktionen rund laufen.

Esau sieht zum ersten mal seinen Bruder als Menschen,
und nicht Mamas Liebling
oder den, der Papas Segen hat. —

Jakob bekommt einen Beinamen in dieser Nacht:
Israel, „der Gottesstreiter“.
Das ist der, der
mit Gott streitet,
aber auch der, der
für Gott streitet.

Jakobs Gehorsam,
sich auf den Weg zu seinem Bruder zu machen,
hat sich bezahlt gemacht.
An der Schwelle zu seinem Heimatland,
in der Dämmerung eines neuen Tages,
bekommt er den Mut
und die Besonnenheit,
seinem Bruder entgegenzutreten.

Er hat das Angesicht Gottes gesehen – und gelebt.9
Jetzt kann er auch seinem Bruder unter die Augen treten.
Das ist sein Lohn
und der eigentliche Sieg,
den er an diesem Tag errungen hat:
Die Liebe und die Umarmung von seinem Bruder. —

Der „Mann“,
der mit Jakob gerungen hat,
wurde von Gott gesandt.
Viele Ausleger sagen, er sei ein „Engel“,
obwohl das Wort hier nicht steht.
Wenn es ein Engel ist,
dann ist es ein Engel wie der,
der dem Propheten Bileam entgegentritt;
10
oder der Engel,
der mit Abraham nach Moriah geht,
um Isaak zu opfern.
11

Wenn uns Gott so gegenübertritt,
kann uns der Eindruck überkommen,
als gäbe es eine Seite an ihm,
die dunkel und verborgen ist. —
Wir muss es Hiob gegangen sein?

Gott hat den Jakob erwählt.
Er ist sein Israel.
Doch keineswegs ist ihm Esau egal.
War das etwa richtig,
was Jakob tat, als Junger Mann?
War das fair?
Er hat die Bevorzugung gedankenlos angenommen,
die Stimmung seines Bruders geschickt ausgenutzt.
Esau hat ein Recht an seinem Zorn.
Und sein Schatten hing zurecht über dem Gemüt seines Bruder,
so dass der sich fürchtete.

Dabei ist dieser Schlag auf die Hüfte nicht einfach eine Strafe,
um der Strafe willen.
Manche fürchten ja den strafenden Gott
oder sagen sogar, Gott sei „rachsüchtig“.
Ist er nicht.

„So wahr ich lebe“, spricht Gott der Herr:
„ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen,
sondern dass der Gottlose umkehre von seinem Wege
und lebe“.
12

Die Begegnung mit dem Engel
bringt nicht Gerechtigkeit durch Strafe,
sondern Veränderung und Erneuerung,
ja Wiedergeburt.

Krankheit, Schmerzen, Strafe und Zorn:
Unser Leben kann sich anfühlen,
als stünden diese Dinge zwischen uns und Gott,
aber sie sind nicht das Ziel Gottes.

Jesus Christus ist auferstanden von den Toten.
Er hat neues Leben
und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht
13.
In diesem Licht lebst auch du!

Selbst, wenn es dir wie Dunkelheit vorkommt,
selbst, wenn dir das Wasser des Jabbok bis zum Hals steht
und das Leben mit dir ringt,
Gott ist nicht gegen dich.
Jakob betet:

Ich lasse dich nicht,
du segnest mich denn.

Gott wird dich segnen,
denn er will nicht deinen Tod.
In allem Kampf blickt Gott liebevoll auf dich,
nicht zornig.
14
Gott will ein neues Leben für dich,
wie es in Jesus Christus vorgezeichnet ist.

Amen.

P: Der Herr ist auferstanden.
G: Er ist wahrhaftig auferstanden!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!15 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ps 119,105


3 Vgl. Gen 25,29–34.


4 Vgl. Die Worte des Propheten Maleachi, Mal 1,1f.


5 Vgl. Gen 27,34.


6 Die Ätiologie der Speisevorschrift V. 33 lasse ich weg, weil meine Gemeinde die Sitte eh nicht kennt.


7 Hier kürze ich um der Zeit willen.


8 Der letzte Abschnitt der Predigt basiert im Wesentlichen auf der Auslegung des Rabbiners Benno Jacob (1862–1945) aus „Das erste Buch der Tora: Genesis, übersetzt und erklärt“, z.St., das mir in der englischen Übersetzung als “The first book of the Bible Genesis” vorlag via, archive.org. Den Hinweis darauf verdanke ich G. v. Rad: ATD 2–4 „Genesis“ z.St.


9 Vgl. Vers 31.


10 Vgl. Num 22,22.


11 Vgl. Gen 22.


12 Hes 33,11


13 Präfation zu Ostern.


14 Vgl. das Titelbild von Rembrandt van Rijn!


15 Phil 4,7