14:16

Jesu Weheruf
Predigt zu Lk 19,41–44

93 10. So. n. Tr., 21. August 2022, Frankfurt

„Eintracht Frankfurt hat keine Zukunft“ – ungefähr so provokant, wie das für Frankfurter ist, muss sich Jesus’ „Weheruf“ über Jerusalem für seine Jünger angehört haben.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist der Evangeliumslesung für heute entnommen.
Ich werde uns einige Worte Jesu
im Laufe der Predigt noch mal ins Gedächtnis rufen.

Lasst uns beten:
Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht auf meinem Wege!
2
Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

(Einleitung) der Gedenktag der Zerstörung Jerusalems
ist so etwas wie der „11. September“ des Judentums.
Der Tag heißt auch so:
„Tisha B
eAv“, der 9. Tag im Monat Aw.
An ihm fallen im Gedenken mehrere Katastrophen zusammen:
Die Zerstörung des Tempels durch die Römer
und die Zerstörung ganz Jerusalems.
3

Der 9. Aw fällt in unserer Weltgegend in den Hochsommer
und im liturgischen Kalender
oft in die Nähe des 10. Sonntag nach Trinitatis.
Unser Predigtwort,
Jesu Ankündigung,
dass Jerusalem zerstört werden würde,
hat eine lange Tradition an diesem Tag.
4
Wie man sich leicht vorstellen kann,
hat so manche Predigt nicht von Buße gehandelt,
sondern Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude verbreitet.

Als ich ein Kind war,
war es für mich vollkommen klar,
dass „die Israeliten“ aus der Bibel
„die Menschen“ sind.

  • Die Leute, die um das goldene Kalb tanzen,
    das sind wir.
  • Die Leute, die beim Auszug aus Ägypten ständig meckern,
    das sind wir.
  • Die Leute,
    die fremden Göttern steinerne Altare bauen
    und den Bildern der Ascherer Rauchopfer darbringen,
    5 – 
    das sind nicht die anderen,
    das sind wir.

Wenn der Jude Jesus
mit jüdischen Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem ist
und auf den Tempel zeigt,
dann redet er nicht über Fremde und deren Religion,
sondern er redet über uns
und unsere Tempel.

So schreibt der Evangelist Lukas
im 19. Kapitel:

41Als Jesus nahe hinzukam,
sah er die Stadt [Jerusalem]
und weinte über sie.
42Er sprach:

„Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit,
was zum Frieden dient!
Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen.

43Denn es wird eine Zeit über dich kommen,
da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen,
dich belagern und von allen Seiten bedrängen,
44und werden dich dem Erdboden gleichmachen
samt deinen Kindern in dir
und keinen Stein auf dem andern lassen in dir,
weil du die Zeit nicht erkannt hast,
in der du heimgesucht worden bist“.
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Wie würde das für klingen,
wenn Jesus das zu uns sagen würde?

(a) Die Stadt, in der ihr lebt, hat keine Zukunft.
In einem Atomkrieg wäre Frankfurt Primärziel,
als Bankenzentrum
und Kommunikationsknotenpunkt.
Im Kalten Krieg gab es Interkontinentalraketen,
da waren unsere Koordinaten einprogrammiert.
Wer weiß,
ob das nicht noch mal so wird.

(b) Eintracht Frankfurt hat keine Zukunft. –

Obacht, Herr Pfarrer,
keine Blasphemie von der Kanzel! –

Aber ungefähr so sehr
muss Jesus seine Zuhörer geärgert haben.
Jerusalem und der Tempel darin,
das war für sie ein Ort der Freude und des Stolzes.
Das ist etwas,
das ihre Identität ausgemacht hat.
Das hat ihnen Selbstbewusstsein gegeben, im Alltag
und in der Begegnung mit den heidnischen Machthabern.

(c) Die Kirche hat keine Zukunft.
Der eine Satz passt drei mal:
- das Gebäude,
- die Trinitatisgemeinde
- und die SELK.

Da braucht man sich nur die Altersverteilung angucken,
die Finanzlage
oder die Personallage.

Wenn ihr an die Gottesdienstgemeinde denkt:
Wer von denen, die hier regelmäßig sitzen,
ist in zehn Jahren – nach menschlicher Voraussicht – noch da?

Ich freiere gerne Gottesdienste mit euch
und ich bin Gott dankbar für die Zeit,
die wir miteinander verbringen,
hier und in allen Kreisen und immer, wenn wir uns begegnen.

Mir ist aber wichtig,
dass wir in unseren Verstand
und in unser Herz lassen,
dass es nicht ewig so bleiben wird,
wie es ist.

Wenn das unser Anspruch ist,
können wir nur enttäuscht werden.
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Wie sehen wir uns selbst?
Welche Geschichte erzählen wir über uns?

Ich hatte ein Gespräch mit einem Pfarrer aus der Landeskirche.
Seine Gemeinde hat in den 50er Jahren ihre Kirche gebaut.
Diejenigen, die an deren Kirchbau beteiligt waren,
erzählen immer gerne,
wie das damals war.

Ein alter Herr erzählt stolz:

Die Fliesen in den Toilettenanlage,
die habe ich verlegt!

Und ich achte seine Leistung
und ich gönne ihm seine Freude daran. – 
Nur der junge Mann,
dem er das erzählt hat,
den hat das überhaupt nicht interessiert.

Der hat sich eher gedacht:

Ach deswegen dürfen diese Fliesen nie erneuert werden!
…ausgetauscht werden, gegen schöne!

Der Kirchbau ist das Ursprungsereignis.
Das ist die Geschichte,
die die Gemeinde von sich erzählt.
Da habe ich zu meinem landeskirchlichen Kollegen gesagt:

Na ja, so funktioniert das.
Die Kirche als ganze
schaut doch auch zurück auf ein Ursprungsereignis:
Jesus, sein Leben, Sterben und Auferstehen.

Und er antwortet:

Ja, aber Jesus’ Geschichte,
die hat eine Perspektive auf das Himmelreich.

Die Geschichte vom Kirchbau
hat keine Zukunft,
die hat nur Vergangenheit.
Jesus’ Geschichte
hat nicht nur Vergangenheit,
die hat Zukunft.

(c') Letzte Woche war unser Gottesdienst am 14.8.
und da habe ich gesagt:

Wir müssten eigentlich ein Kirchweihfest feiern,
wegen der Steintafel am Altar.

Ich wurde dann zurecht korrigiert:
Der 14.8. ist nicht der Tag der Kirchweihe,
sondern der Grundsteinlegung –
ein technisches,
kein geistliches Datum.

Trotzdem ist es ein wichtiges Datum:
Ein Tag, an dem man denen Achtung entgegenbringt,
die ihre Zeit,
ihren Schweiß
und ihr Geld in diesen Kirchbau gesteckt haben,
von Pfr. Wilhelm Rehr angefangen
bis zu demjenigen,
der die Fliesen in den Toilettenanlagen angebracht hat.

Wir dürfen Geschichten aus der Vergangenheit erzählen – 
mit Dankbarkeit und Achtung! –
Doch Zukunft erfahren wir hier nicht.

Der Geburtstag der Kirche
- ist nicht die Grundsteinlegung,
- nicht die Kirchweihe,
sondern Pfingsten.

Es soll nicht durch Heer oder Kraft geschehen,
sondern durch meinen Geist,
spricht der
Herr Zebaoth. – Sach 4,6

Daher kommt uns Zukunft.

In ganz anderen Gebäuden,
in ganz anderen Strukturen,
in ganz anderen Sprachen:
Gott wird sein Wort immer ausgehen lassen durch die Predigt
und sich selbst immer verschenken durch das Abendmahl.
8

(b') Worauf verlassen wir uns in unserem Alltag?
Woran machst du dich fest,
wenn du in Frage gestellt bist,
tief drinnen?
- Bin ich wertvoll?
- Bin ich liebenswert – bin ich der Liebe wert?

Damals, als die Bundesliga noch fair war,
bevor die Bayern alles beherrscht haben,
da hatten wir noch Chancen auf den Titel!

Damals, als ich noch jung war,
da hätte ich vorne mitgespielt.

Das mag sogar alles wahr sein,
doch Zukunft erfahren wir hier nicht.

Damals,
am 31. Oktober 1977,
bin ich getauft worden.

Das ist meine Identität,
hier mache ich mich fest. – 

3Oder wißt ihr nicht,
dass alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind,
die sind in seinen Tod getauft?
4So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe –
in den Tod,
damit,
wie Christus auferweckt ist von den Toten…,
auch wir in einem neuen Leben wandeln.

Daher kommt uns Zukunft.

(a') Wir schauen zurück auf eine Geschichte des Friedens.
Meine Großeltern haben vom Krieg erzählt,
aber schon für meine Eltern war das Vergangenheit.
Jetzt singen wir schon seit Wochen
„Verleih uns Frieden gnädiglich“,
weil uns der Krieg so nahe gekommen ist.

Deutsche Haubitzen feuern auf russische Ziele.
Sie sind mit ukrainischen Artilleristen besetzt, natürlich.

Es gibt so eine Zögerlichkeit,
deutsche Waffen in die Ukraine zu liefern:
Kampfpanzer, Schützenpanzer, die Haubitzen.

Es heißt:

Wir müssen an unsere Vergangenheit denken!

Man könnte fast meinen,
wir wollen an der Vergangenheit festklammern – 
nicht die Vergangenheit des 2. Weltkrieg,
sondern eine Vergangenheit mit Stabilität,
mit Frieden,
wo mal eine Mauer fällt
und man was zu feiern hat.

Wer will schon eine Zukunft,
in der man sich fürchten muss?
…in der man nicht mehr weiß, ob nicht doch Krieg kommt,
…und Teuerung,
…und Hunger.
Da nimmt man lieber eine Vergangenheit,
in der alles klar war.

Gen 9,8Und Gott sagte zu Noah und seinen Söhnen mit ihm:
9Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf
und mit euren Nachkommen
10und mit allem lebendigen Getier bei euch,
an Vögeln, Vieh und allen Tieren des Feldes…

Gen8,22Solange die Erde steht,
soll nicht aufhören Saat und Ernte,
Frost und Hitze,
Sommer und Winter,
Tag und Nacht.

Gott hat „ja“ gesagt zur ganzen Welt
und seinen Bund mit ihr errichtet.

Daher kommt uns Zukunft.

8Jesus Christus
gestern
und heute
und derselbe auch in Ewigkeit.
9

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!10 Amen.

UNDERI… I
I am the undertow
Washing tides of power
Battering the pillars
Under your things of high law.
II
I am a sleepless 
Slowfaring eater, 
Maker of rust and rot 
In your bastioned fastenings, 
Caissons deep.
III
I am Law 
Older than you 
And your builders proud.
I am deaf 
In all days 
Whether you 
Say “Yes” or “No.”
I am the crumbler: 
Tomorrow.

(Carl Sandburg, “The Road the the End“)

Seyton: The queen, my lord, is dead.

Macbeth: She should have died hereafter; / There would have been a time for such a word. — To-morrow, and to-morrow, and to-morrow, / Creeps in this petty pace from day to day, / To the last syllable of recorded time; / And all our yesterdays have lighted fools / The way to dusty death. / Out, out, brief candle! Life’s but a walking shadow, a poor player / That struts and frets his hour upon the stage / And then is heard no more. / It is a tale / Told by an idiot, full of sound and fury / Signifying nothing. (Act 5, Scene 5)

1 1.Kor 1,3


2 Ps 119,105


3 Vgl. Übersicht https://de.wikipedia.org/wiki/Tischa_beAv .


4 Vgl. Anne Heinig: „Zwischen Buße und Begegnung“ in der Arbeitshilfe der SELK zum Israelsonntag 2022, herausgegeben von Pfr. A. Volkmar.


5 Vgl. Jes 27,2–9, die atl. Lesung ELKG² 57.


6 ἀνθʼ ὧν οὐκ ἔγνως ⸄τὸν καιρὸν τῆς⸅ ἐπισκοπῆς σου. Vgl. Lobgesang des Zacharias, Lk 1,68 „Εὐλογητὸς oκύριος ὁ θεὸς τοῦ Ἰσραήλ,

ὅτι ἐπεσκέψατο καὶ ἐποίησεν λύτρωσιν τῷ λαῷ αὐτοῦ,“ = „…denn er hat besucht und erlöst sein Volk“. ἐπισκοπή ist in der LXX häufig, prof. Griechisch praktisch unbekannt. — Im unmittelbaren Kontext bei Lk bezieht es sich (auch) auf den Einzug nach Jerusalem. Vgl. ThWNT Bd. 2, S. 603 z. St.


7I am the crumbler: Tomorrow. (Sandburg)


8 „Es wird gelehrt, dass zu allen Zeiten eine heilige christliche Kirche sein und bleiben wird, welche die Versammlung der Gläubigen ist, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“ (vgl. CA 7, BSELK S. 102).


9 Heb 13,8


10 Phil 4,7