13:33

Jesu Geschwister sind Gottes Kinder
Predigt zu 1.Joh 3,1–5

74 Christfest I, 25. Dezember 2021, Frankfurt a.M.

Gott teilt sein Leben mit uns, indem er in Jesus Christus unser Bruder geworden ist. Das verdeutliche ich anhand einer Geschichte.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
steht im 1. Brief des Johannes im 3. Kapitel:

1Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater gegeben,
dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht;
denn sie kennt
ihn nicht.

2Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder;
es ist aber noch nicht offenbar geworden,
was wir sein werden.
Wir wissen aber:
wenn es offenbar wird,
werden wir ihm gleich sein;
denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

3Und ein jeder,
der solche Hoffnung auf ihn hat,
der reinigt sich,
wie auch jener rein ist.

4Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht,
und die Sünde ist das Unrecht.
5Und ihr wisst,
dass er erschienen ist,
damit er die Sünden wegnehme,
und in ihm ist keine Sünde.

Lasst uns beten:
Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte
und ein Licht auf meinem Wege!
2 — Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

der kleine Bruder ließt in einem Roman:

Barocke Möbel standen auf einem Fußboden
aus Jugendstil-Fliesen.

Er schaut von seinem Buch hoch
und guckt fragend den großen Bruder an.

Erinnerst du dich an das Wohnzimmer
von von Frau Grünbaum nebenan?

Klar!

Solche Möbel…
auf Fliesen,
wie Oma sie im Wintergarten hatte.

Bums! Ein 90-minütiger Vortrag über Kunstgeschichte
in zwei Sätzen.

Die beiden Brüder
haben ihn ganzes bisheriges Leben zusammen verbracht.
Sie kennen die gleichen Leute,
sie kennen die gleichen Räume,
die gleichen Häuser,
die gleichen Straßen.
Der eine ist mit dem Leben des anderen tief vertraut.

Die beiden Brüder teilen das Leben miteinander. —
Gott teilt uns sein Leben
3 mit,
indem sein Sohn Jesus Christus
unser Bruder geworden ist.

Johannes schreibt:

1Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater gegeben,
dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht;
denn sie kennt ihn nicht.

Wir kennen Gott,
wie die beiden Brüder sich kennen.
Seine Liebe bindet uns mit Gott zu einer Familie zusammen.

Wir kennen Gott
und die anderen kennen ihn nicht. –
Das ist das Selbstbewusstsein des Presbyters Johannes.

Damit seine Gemeinde nicht auf die Idee kommt,
sie seien etwas besseres,
hatte er zu Anfang seines Schreibens klargestellt:

8Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde,
so betrügen wir uns selbst,
und die Wahrheit ist nicht in uns.

Doch haben wir schon jetzt echte Gemeinschaft mit Gott,
in seiner Liebe,
aber die Vollendung haben wir
noch nicht.
Wir werden Gott sehen können, wie er ist,
aber bisher gilt für uns, wie für jeden Menschen:

Niemand kann Gott sehen und lebt.4

Geschichte

Dirk Schröder ist Bänker.
Die Zoom-Konferenz mit Australien ist gerade vorbei.
Der Abschluss war erfolgreich.
Die Verträge sind geschlossen.
Dirk ist nach Feiern zumute.
Er nimmt sich drei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank
im Aufenthaltsraum
und macht sich auf den Weg.

In Sachsenhausen angekommen
ist er enttäuscht:
Da ist niemand.

Dann geht ihm auf:
Es ist nicht spät in der Nacht.
Es ist früh am Morgen.
In Sydney ist es Nachmittag,
hier ist es halb sechs –
in der Woche.
Da ist selbst in Sachsenhausen keine Party mehr.

Er steht auf der Straße wie bestellt und nicht abgeholt –
mit seinen frei Flaschen Bier in der Hand.
Er macht sich eine auf
und setzt sich auf die Bank.

Neben ihm sitzt ein Obdachloser.
Er hat drei große Plastiktüten mit Pfandflaschen dabei.
Halb aus Ärger,
dass er so doof war,
halb aus Enttäuschung,
dass er so einsam ist,
fragt Dirk den Mann:

Willst du eine Flasche Bier?

Ne, danke.

Dirk ist gekränkt.

Er will dem Obdachlosen einen zurückgeben und fragt:

Was ist bei dir passiert,
dass du hier Flaschen sammelst?
Lebst du davon?

Als ob er sich für die Unhöflichkeit entschuldigen wollte,
fängt der Mann an zu erzählen:
- von schwierigen Familienverhältnissen,
- von einer Jugend auf der Straße,
- der der abgebrochenen Schule,
- von Drogen, Beschaffungskriminalität. —

Er heißt René.

Seine Hoffnung ist das Entzugsprogramm,
in dem er gerade ist.
Er kriegt beim Arzt einen Ersatzstoff.
Das Medikament lindert die Entzugserscheinungen.
Der ist billiger als die Droge selbst.
Deswegen sammelt er Flaschen.

Das ist das erste Mal seit Jahren,
dass sich ein Mensch Dirk gegenüber so öffnet.
René teilt mit ihm ein Stück weit sein Leben,
- die Leute, die ihm begegnet sind,
- die Räume, in denen er gelebt hat,
- die Straßen, auf denen er aufgewachsen ist.
Er wird ein kleines Bisschen wie Dirks Bruder.

Eine Sache wundert Dirk:

Du willst von den Drogen weg
und kriegst den Ersatzstoff nicht umsonst?

Keine Krankenversicherung.

Und er hat schon einmal abgebrochen,
ist rückfällig geworden.
Er muss dem Arzt beweisen, dass er will.

Und deswegen kann ich kein Bier trinken,

erklärt René.

Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht.

Wenn ich jetzt ein Bier trinke,
finde ich kein Ende.
Ich gebe das ganze Geld von den Flaschen für Bier aus.
Ich kann nicht zum Arzt,
kriege kein Methadon.
Ich habe keine Bremse, weißt du.

Geht mir auch so,

antwortet Dirk,

wenn es um Schokolade geht.

Und während er das so sagt,
so halb grinsend, halb ernst gemeint,
da trifft es ihn
wie ein Schlag:

Er ist kein Stück besser, als dieser obdachlose Penner.
Dirk und René,
das ist die selbe Sorte Mensch.
Sie leben in der gleichen Stadt,
sind ungefähr im gleichen Alter.
Die Startbedingungen waren für René etwas schwieriger
als für Dirk, —
aber geschenkt!
In ihrem Inneren sind sie gleich.

Ich habe keine Bremse.
Das gilt für Schokolade,
aber das gilt auch für meine Arbeit,
→ die mich einsaugt wie win Strudel
→ und mich unten einsam und isoliert wieder ausspuckt.
Dann weiß ich nicht mal mehr,
ob es Tag oder Nacht ist.

Dirk hat das Licht gesehen.
Das ist eine fromme Redeweise dafür,
dass er eine Selbsterkenntnis hatte,
gegen die er sich lange gewehrt hat.

Er hat das Licht gesehen –
und im Glanz der Majestät Gottes
ist die Sündenkruste an ihm aufgebrochen.
Sein wahres Ich ist zum Vorschein gekommen.
Unter der Kruste war seine Haut
- empfindlich
- verletzlich
- und weich.

Stellt euch vor,
liebe Brüder und Schwestern,
wir würden das Angesicht Gottes sehen
und alles an uns,
das wider Gott ist,
würde auf einmal offenbar werden.
Wenn alles Harte und Verkrustete aufbrechen würde:
Wir hätten Schmerzen.
Wenn alle Fesseln und Mauern wegbrechen würden:
Wir würden stürzen.

Wie furchtbar ist es,
das Angesicht Gottes zu schauen.
Wie schrecklich ist es,
in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.
5
Niemand sieht das Angesicht Gottes und lebt.6

Im Horizont solcher Erkenntnis
schreibt Johannes an seine Gemeinde:

2Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder;
es ist aber noch nicht offenbar geworden,
was wir sein werden.
Wir wissen aber:
wenn es offenbar wird,
werden wir ihm gleich sein;
denn wir werden ihn sehen, wie er ist.

Johannes sieht uns auf dem Weg.
Wir werden einst das Angesicht Gottes sehen zu können.
Gott wird uns so verwandeln,
dass wir das ertragen können.
Johannes beginnt unseren Abschnitt ja damit zu betonen,
dass wir jetzt schon Kinder Gottes heißen
und es auch
sind.

Wir sind es
und wir sind gleichzeitig auf dem Weg.
Wir
haben Sündenerkenntnis
und wissen,
dass wir nicht perfekt sind.
Das ist keine anonyme Selbsterkenntnis,
sondern sie ist verbunden mit einem Namen:
Jesus Christus.

Wir können uns nicht selbst überwinden.
Vor dem Angesicht Gottes
kann der Mensch nur eingehen.

Das ist die Weihnachtsbotschaft
in diesen Zeilen des Presbyters Johannes:
Doch Gott kommt zu uns.
Das Kind in der Krippe wird unser Bruder,
damit wir Gottes Kinder werden.
In der Beziehung mit ihm
wächst Familien-Ähnlichkeit.
Wir werden ihm vertraut
und sein Wesen wird zu unserem Wesen,
während er unser Wesen wegträgt
ans Kreuz.

  • Am Anfang habe ich von zwei Brüdern erzählt,
    die zusammen aufgewachsen sind,
    und sich deswegen sehr gut kennen.
  • Meine kleine Geschichte
    handelt von zwei Männern,
    die so was wie Brüder geworden sind,
    da auf dieser Bank,
    beim Anbruch eines neuen Tages.

Das sind beides Abbilder
für die Nähe
und Familien-Ähnlichkeit,
die an Weihnachten zu dir in dein Leben gekommen ist,
weil Jesus geboren wurde
in dem Stall in Bethlehem.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!7 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ps 119,105


3 Vgl. Lk 15,30f. Der ältere Bruder des „verlorenen Sohnes“ moniert seinem Vater gegenüber, dass dieser dessen „Hab und Gut“ verprasst habe, im Gr. σου τὸν βίον. Der Vater antwortete, dass der Ältere nie die Gemeinschaft zu ihm verlassen habe, „alles, was mein ist, ist dein“. Gottes Kinder teilen das βίος des Vaters. Die Anrede des Vaters an den Älteren ist τέκνον, wie bei in V. 1.


4 Vgl. Ex 33,20.


5 Nach Heb 10,31.


6 Nach Ex 33,20, wie oben.


7 Phil 4,7