15:47

Mein Erlöser lebt
Predigt zu Hi 19,6–27

52 Judika, 21. März 2021, Bremen

„Es gibt keinen Teufel, das ist bloß Gott, wenn er gesoffen hat“. – Das ist eine ziemliche Frechheit aus einem alten Lied, 
aber sie trifft recht genau, was Hiob hier zum Ausdruck bringt. Er hat so viel Leid und Demütigung erfahren, 
dass seine Trauer in Wut umschlägt: Wut auf die Freunde, die versuchen, ihn zu trösten; Wut auf Gott, der sein Leiden entweder auslöst, aber zumindest nicht verhindert.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist aus dem Buch Hiob im 19. Kapitel.
Es ist eine Wutrede Hiobs.
Ich habe an einigen Stellen gekürzt.

Hiob trauert. Er fährt seine Freunde an und sagt:

6So merkt doch endlich,
dass Gott mir unrecht getan hat
und mich mit seinem Jagdnetz umgeben hat.
7Siehe, ich schreie „Gewalt!“
und werde doch nicht gehört;
ich rufe,
aber kein Recht ist da.

8Er hat meinen Weg vermauert,
dass ich nicht hinüber kann,
und hat Finsternis auf meinen Steig gelegt.
9Er hat mir mein Ehrenkleid ausgezogen
und die Krone von meinem Haupt genommen…
11Sein Zorn ist über mich entbrannt,
und er achtet mich seinen Feinden gleich…

13Er hat meine Brüder von mir entfernt,
und meine Verwandten sind mir fremd geworden…
16Ich rief meinen Knecht, und er antwortete mir nicht;
ich mußte ihn anflehen mit eigenem Mund.
17Mein Odem ist zuwider meiner Frau,
und den Söhnen meiner Mutter ekelt’s vor mir.
18Selbst die Kinder geben nichts auf mich;
stelle ich mich gegen sie, so geben sie mir böse Worte…

20Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch,
und nur das nackte Leben brachte ich davon…

25Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt,
und als der letzte wird er sich über dem Staub erheben.

26Ist meine Haut noch so zerschlagen
und mein Fleisch dahingeschwunden,
so werde ich doch Gott sehen.
27Ich selbst werde ihn sehen,
meine Augen werden ihn schauen
und kein Fremder.
Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Lasst uns beten: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege! — Amen

Liebe Brüder und Schwestern!

Es gibt keinen Teufel,
das ist bloß Gott, wenn er gesoffen hat.
1

Das ist eine kleine Frechheit aus einem alten Lied,
aber sie trifft recht genau, was Hiob hier zum Ausdruck bringt.
Er hat so viel Leid und Demütigung erfahren,
dass seine Trauer in Wut umschlägt:

  1. Wut auf die Freunde, die versuchen, ihn zu trösten;
  1. Wut auf Gott, der sein Leiden entweder auslöst,
    aber zumindest nicht verhindert.

Um so erstaunlicher,
dass Hiobs Zweifel und Verzweiflung
sich am Ende schlagartig umkehren.
- Wie der Phönix aus der Asche,
- wie der Schrei eines Stummen,
- wie eine Liebeserklärung im Streit:

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!
Ich werde Gott sehen,
meine Augen werden ihn schauen.

Ich werde in dieser Predigt betrachten,

  • was dieses Wort bei Hiob bedeutet: „Erlöser“
  • und dies in einem zweiten Teil anwenden auf das Evangelium,
    das wir gerade gehört haben.
    Christus spricht davon,
    dass der Menschensohn sein Leben als „Lösegeld“ geben müsse für viele.
    Das ist kaum zu verstehen,
    ohne dass man weiß,
    was sich das Alte Testament unter „Erlöser“ vorstellt.

1. „Erlöser“

Dazu müssen wir in eine Welt eintauchen,
die uns sehr fremd erscheinen muss.
1a) In dieser Welt gibt es – ganz selbstverständlich und alltäglich – Sklaverei.
Für fast alle Menschen im Alten Israel stellt sie eine echte Gefahr dar.
Bis auf wenige Ausnahmen lebten die Menschen damals
von der eigenen Landwirtschaft.
Ein Unglück oder eine Missernte
können eine Familie leicht in den Ruin treiben.
Dann haben sie nichts mehr zu essen.
Es war möglich, sich Geld oder Saatgut zu leihen,
aber die Zinsen waren so horrend,
dass man nur mit viel Glück zurückzahlen konnte.
Für viele Familien bedeutete eine schlechte Ernte,
dass sie ihren Hof aufgeben müssen.
Man konnte nirgendwo Insolvenz anmelden.
Es gab kein Sozialsystem
und keine Menschenrechte.
Die Familie wurden quasi selbst zum Eigentum des Gläubigers.

Dabei regelt das Gesetz des Mose im Buch Deuterenomium:2

12Wenn sich dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin,
dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen;
im siebenten Jahr sollst du ihn als frei entlassen.

13Und wenn du ihn freigibst,
sollst du ihn nicht mit leeren Händen von dir gehen lassen,
14sondern du sollst ihm aufladen von deinen Schafen,
von deiner Tenne,
von deiner Kelter,
so dass du gibst von dem,
womit dich der
Herr, dein Gott, gesegnet hat,
15und sollst daran denken,
dass du auch Knecht warst in Ägyptenland
und der
Herr, dein Gott, dich erlöst hat;
darum gebiete ich dir solches heute.

Das ist für die Antike sehr ungewöhnlich:
Eine zeitliche Begrenzung!

Die Bibel kann die Sklaverei nicht verbieten,
weil die Familien sonst verhungern würden.
Statt dessen wird die Zeit begrenzt.

Die Begründung ist beachtenswert:

„Weil du ein Sklave warst“ –
und:
„Gott hat dir dir Freiheit geschenkt“.

Die Freigelassenen sollen Kleinvieh und Lebensmittel erhalten für ihren Dienst.
Sie bekommen also bei der Entlassung die Grundlage für einen neuen Hausstand.
Und wieder die Begründung:
Der Reiche kriegt angesagt,
dass auch er sein Vermögen nur hat,
weil Gott es ihm geschenkt hat.

Was passiert aber,
wenn ein Israelit in die Situation kommt,
dass er sich bei einem
Heiden in Schuldsklaverei begeben muss?
Für den Heiden gilt das Gesetz des Mose ja nicht.

Das ist, wo der Erlöser ins Spiel kommt.
Er hat die Pflicht,
seine Verwandten aus der Sklaverei freizukaufen,

Auf Baustellen findet man in der Regel ein Schild:

Betreten verboten.
Eltern haften für ihre Kinder!

Die Logik hier ist ähnlich:
Es ist im Gesetz geregelt, wer für wen haftet,
wenn dieser Fall eintritt.

Für den Erlöser ist das Ehrensache,
aber es ist natürlich nicht billig.
Er muss aus dem eigenen Vermögen,
aus der eigenen Substanz an Vieh und Lebensmitteln
die Schuld seines Anverwandten decken.
Der Erlöser gibt etwas von sich selbst,
von seiner eigenen Lebensgrundlage
für die Menschen, die er erlöst.

Wenn ich das so sage, merkt Ihr schon, wo die Reise hingeht,
wenn wir im zweiten Teil über Jesus Christus reden.

1b) Auf dem gleichen Weg
war die Versorgung von Witwen geregelt.
Dafür benutzt die Bibel das gleichen Wort:
„erlösen“ und „Erlösung“

Witwen wurden in die Familie des „Erlösers“ aufgenommen,
damit sie versorgt sind.
In der Predigt letzte Woche kam eine Frau vor,
deren Mann gestorben war
und deswegen mit der Familie von ihrem Schwager lebt.
Das ist genau die Idee von „Schwagerehe“.
Das hat nichts zu tun mit romantischen Vorstellungen von Ehe,
sondern es geht um geregelte Versorgung von Frauen,
die sonst in Armut und Hunger verfallen würden.

1c) Stellt euch vor, es gibt
- kein Sozialamt,
- keine Bankaufsicht
- keine Polizei und keine Strafverfolgung.
Was hält dann den einen Menschen davon ab,
den anderen Menschen zu erschlagen?
Die Blutrache.

Das ist eine Sache,
die uns zum Glück genau so fremd vorkommt,
wie die Sklaverei –
vielleicht sogar ein bisschen gruselig.
Die Blutrache ist eine Form von Recht,
die helfen soll,
das Leben von Menschen zu bewahren
und den Frieden zu erhalten.

Wenn jemand erschlagen wird,
war es die Pflicht des Erlösers,
sein Leben zu rächen.
Er musste den Mörder seinerseits umbringt.
Dazu hatte er seine Zeit,
seine Energie
und wenn nötig auch sein Vermögen aufzuwenden.
Ganz zu schweigen davon,
dass der Erlöser den Mörder seinerseits auf dem Gewissen hat!
Und: Das hört ja nicht einfach auf,
sondern er selbst kann zum Gegenstand der Blutwache werden.
Für das Leben des anderen
muss er sein eigenes Leben einsetzen.

Es ist die Pflicht des Erlösers,
sich gegen den Mörder zu erheben.

Der Erlöser
- befreit aus Sklaverei und Not
- indem er aus dem Schatz des eigenen Lebens gibt
- und das eigene Leben einsetzt.
Mit diesem Wissen lasst uns noch mal Hiob hören,
der sagt:

25Ich weiß, dass mein Erlöser lebt,
und als der letzte wird er sich über dem Staub erheben.

Wie drastisch und wie radikal ist Hiobs Umkehr!
Gerade redet er noch in Wut und Verzweiflung
von Gott als seinem Gegner.
Dann – auf einmal – nennt er ihn seinen Erlöser.

Mein Erlöser lebt.
Er ist nicht tot,
sondern er handelt.
Er wird aufstehen über meinem Staub
und als Rächer auftreten gegen sich selbst.

Gott wird umkehren von seinem Zorn
und alles wieder gutmachen,
was mir jetzt widerfährt –
das ist Hiobs Glaube.

Hiobs Hoffnung läuft auf eines hinaus:
dass er Gott
sehen wird.

26Ist meine Haut noch so zerschlagen
und mein Fleisch dahingeschwunden,
so werde ich doch Gott sehen.
27Ich selbst werde ihn sehen,
meine Augen werden ihn schauen
und kein Fremder.
Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.

Hiob sehnt sich nach Gemeinschaft mit Gott.
Er will ihm begegnen von Angesicht zu Angesicht,
ohne Abstand und Maske.

(2) Liebe Brüder und Schwestern,
das Evangelium für den heutigen Sonntag
endet mit Jesu Worten:

Der Menschensohn ist nicht gekommen,
um sich dienen zu lassen,
sondern dass er diene
und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
3

„Lösegeld“ ist „das, was Erlösung schafft“,
„das, was der Erlöser gibt“.
Der Erlöser
- befreit aus Sklaverei und Not
- indem er aus dem Schatz des eigenen Lebens gibt
- und das eigene Leben einsetzt.

Gott hat für dich diese Rolle angenommen.

„Eltern haften für ihre Kinder“.
Er haftet für dich.

Er hat gezahlt zahlt,
was ihm dein Leben wert ist:
Alles.

Der Herzenswunsch Hiobs hat sich für uns erfüllt:

27Ich selbst werde ihn sehen,
meine Augen werden ihn schauen
und kein Fremder.

In Jesus Christus hat Gott sich uns gezeigt.
Er hat den Schleier weggenommen
und uns sein Herz geöffnet.
Und was gibt es da zu sehen?
- Gnade,
- Milde,
- Liebe,
- Barmherzigkeit.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!4 Amen.

1 Nach: “Don't you know there ain't no devil, there's just God when he's drunk“ aus: Tom Waits: “Heartattack and Vine“. Titelsong des gleichnamigen Albums, Asylum Records, 1980.


2 Dtn 15,12–15


3 Mt 10,45


4 Phil 4,7