14:23

Gehorsam und Freiheit
Predigt zu Mi 6,1–8

167 22. So. n. Trinitatis, 27. Oktober 2024, Frankfurt

Sie hat die Urkunde in der Hand und kann es nicht glauben. Ihr Name steht mit dem neuen Titel an der Bürotür, aber sie fürchtet sich: Was, wenn sie ’rausfinden, dass ich ein ganz normaler Mensch bin?

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist ein Abschnitt beim Propheten Micha im 6. Kapitel.
Der Prophet sagt:

1Höret doch, was der Herr sagt:

„Mach dich auf,
führe deine Sache vor den Bergen
und lass die Hügel deine Stimme hören!“

2Höret, ihr Berge,
wie der
Herr rechten will,
und merkt auf, ihr Grundfesten der Erde;
denn der
Herr will mit seinem Volk rechten
und mit Israel ins Gericht gehen!

3„Was habe ich dir getan, mein Volk,
und womit habe ich dich beschwert?
Das sage mir!

4Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt
und aus der Knechtschaft erlöst
und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam.
5Mein Volk, denke doch daran,
was Balak, der König von Moab,
vorhatte und was ihm Bileam,
der Sohn Beors, antwortete;
wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal,
damit ihr erkennt,
wie der
Herr euch alles Gute getan hat.“

6„Womit soll ich mich dem Herrn nahen,
mich beugen vor dem hohen Gott?

Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen
und mit einjährigen Kälbern?

7Wird wohl der Herr Gefallen haben
an viel tausend Widdern,
an unzähligen Strömen von Öl?

Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben,
meines Leibes Frucht für meine Sünde?“

Und Gott antwortet durch den Propheten:

8Es ist dir gesagt, Mensch,
was gut ist
und was der
Herr von dir fordert,
nämlich Gottes Wort halten
und Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott.

Lasst uns beten:
Herr Gott, himmlischer Vater,
rede durch das Wort der Predigt zu uns
wie du einst durch den Propheten
zu deinem Volk geredet hast. — Amen

Liebe Schwestern und Brüder,

(1) als sie den Brief ließt,
kann sie es kaum fassen:

Sehr geehrte Frau Dr. so-und-so,

wir berufen Sie hiermit
auf den Lehrstuhl für ihr Fach.
Dienstbeginn ist 1. März;
usw. usw.

Mit freundlichen Grüßen
das Rektorat der Universität.

Jahre lang hat sie darauf hingearbeitet:
die ausgezeichnete Master-Arbeit,
die brillante Dissertation,
Habilitationsschrift,
Veröffentlichungen,
ein
toughes Bewerbungsverfahren.
Auf einen Lehrstuhl in ihrem Fach
bewerben sich Dutzende ja Hunderte! hochqualifizierter Leute.

Die Fakultät hat sie freundlich begrüßt
und sie steht in ihrem neuen Büro.
Ein riesiger Blumenstrauss nimmt ihren Schreibtisch ein
und sie schaut auf ihre Berufungsurkunde. —
Sie kann es nicht fassen.
Ein Hausmeister klopft freundlich,
er wolle nur gerade das Namensschild anbringen.

Frau Professorin Dr. so-und-so

Sie betrachtet das Schild
und es befällt sie die Beklemmung:

Was ist,
wenn die merken,
dass ich gar nicht so gut bin,
wie sie meinen?

Das ist natürlich vollkommen irrational.
Sie kennt alle ihre Noten.
Sie hat die Gutachten über ihre Bücher gelesen.
Sie hält die Berufungsurkunde in der Hand. —
Aber es erreicht ihr Herz nicht.

Sie hält ihre Antrittsvorlesung vor der versammelten Fakultät.
Die Reihen sitzen voll mit Professoren
und auch der Rektor ist dabei.
Sie hält die Vorlesung in einem gediegenen Sprechtempo.
Sie ist Profi und hat viel Erfahrung.
Aber sie macht keine Pausen,
nicht für Absätze
und nicht für Kapitel.

Sie könnten ja merken,
dass ich atmen muss!

Dann könnten sie sich denken,
dass ich ab und zu was esse und trinke.
Und dann,
wenn ich das gemacht habe,
muss ich auch auf’s Klo.

Dann wissen alle,
dass ich ein ganz normaler Mensch bin!

Genau dieses Gefühl
scheint der Prophet Micha
in seinen Zeitgenossen wahrzunehmen.

Gott erinnert sie an die Grundfakten des Bundes,
- an den Auszug aus Ägypten,
- an die Propheten, die er dem Volk geschickt hat,
- daran, dass er ihnen das gelobte Land geschenkt hat.

Erkennt doch,
wie der
Herr euch alles Gute getan hat!2

Und sie gucken auf die Urkunde
und wissen,
dass es wahr ist:
Gott hat das alles für sie gegeben!
Aber sie glauben es nicht.

6Womit soll ich mich dem Herrn nahen,
mich beugen vor dem hohen Gott?

Will sagen:

Wie kann das denn sein?
Ich bin doch nur ein ganz normaler Mensch!

Ich bin kein Über-Mensch
und ich kann auch keine übermenschlichen Opfer bringen.

Keine einjährigen Kälber. — Viel zu teuer!
Vielleicht mal einen Bock aus meiner Herde.
Einen! — Nicht viele tausende.

Einen normalen Krug Öl.
Keine Eimer oder Fässer oder Tanks,
und schon gar keine „unzähligen Ströme“.

Und mein Erstgeborener?
Das ist absurd.
Was soll dieser Unsinn?

Ja, sagt der Prophet, das ist absurd.
Das ist weltliches Denken:

„Viel hilft viel“.

Gott denkt ganz anders
und du weißt das auch:

8Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was der
Herr von dir fordert,
nämlich Gottes Wort halten
und Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott.

(2) Das ist etwas ganz Anderes
als „viel hilft viel“:
noch mehr Opfer,
noch mehr Arbeit,
noch mehr Druck,
noch bessere Noten,
noch perfekteres Tochter sein,
noch gebügeltere Socken. —
Das ist absurd!
Die Steigerung führt nirgendwo hin,
schon gar nicht zu Gott.

Statt dessen lebt das,
was der Prophet hier beschreibt
von der Spannung zwischen Gehorsam und Freiheit.
Der Gehorsam bezieht sich auf Gottes Recht,
auf seine Satzungen.
3
Die Freiheit ist in Liebe und Gnade.
4
Und das Band, das zwischen beiden besteht,
ist die Demut.
Achtsam und aufmerksam
5 wandeln vor Gott
und unter den Menschen,
bereitwillig und mit offenem Herzen. –
Für diese lebendige Beziehungen hat Gott dich geschaffen.

Wenn ein Lehrstuhl besetzt wird,
wird die Stellenbeschreibung so verfasst,
dass sie dem Inhaber möglichst große Freiheit erlaubt.
Natürlich gibt es einen Arbeitsvertrag,
mit Rechten und Pflichten,
und verbindliche Vereinbarungen.
Aber die thematische Ausrichtung
strebt nach Offenheit und Freiheit.

Neulich meinte ein Professor im Seminar:

Bisher habe ich noch bei jedem Thema einen Weg gefunden,
das mit dem Titel meiner Professur zu verbinden!

Die Logik dahinter ist,
dass wenn jemand so viel Aufwand betrieben hat,
Professor zu werden,
– all die Prüfungen und Veröffentlichungen und Bücher! –
dann hat der so viel eigenes Interesse,
dass er machen kann was er will.
Es werden immer nutzbare Erkenntnisse dabei rauskommen.
Natürlich brauch man Vorgaben und Absprachen
damit man sich nicht verzettelt,
aber Antrieb und Richtung kommen von alleine.

Gnade und Liebe geben dir solche Freiheit.

Natürlich hat Gott einen Anspruch an uns,
doch das Gesetz ist gefasst in Gnade und Liebe.

Der Buchstabe tötet,
aber der Geist macht lebendig.
6

(3) Liebe Gemeinde,
das Leben in dieser Spannung
ist zu seinem Ziel gekommen in Jesus Christus.
7
Er steht vor Gottes Thron als der vollkommen Gehorsame
und der ganz Freie.
In ihm
ist die Beziehung zwischen Gott und Mensch verwirklicht,
wie Gott sie sich wünscht.

Jesus tut den Willen des Vaters.
Er befolgt das Gesetz bis ins Kleinste,
jedes Jota und jeden Punkt.
8
So ist er der Gehorsame.
Als der Freie
bejaht er den Willen des Vaters,
mit offenen Augen und freudigem Herzen. —

Dieser Jesus Christus hat dich angenommen bei deiner Taufe.
Sie ist das Grundfaktum des Neuen Bundes für dich.
Sie ist die Berufungsurkunde,
die beweist,
dass Gott dich liebt
und dass du wertvoll bist in seinen Augen.

Jesus stellt sich mit dir zusammen in die Spannung
von Freiheit und Gehorsam.

  • Der Gehorsam weiß, was gut ist, und tut es.
    Die Freiheit wagt zu handeln
    und stellt das Urteil über gut und böse Gott anheim.
  • Der Gehorsam zeigt uns Menschen,
    dass wir uns
    von Gott sagen lassen müssen,
    was gut und was böse ist.
    Die Freiheit entfaltet Kreativität
    9
    und lässt den Menschen das Gute selbst schaffen.
  • Im Gehorsam befolgt der Mensch die Zehn Gebote,
    in der Freiheit
    schafft der neue Mensch
    neue Gebote.

Da fragt man sich natürlich:

Wie kann das denn sein?
Ich bin doch nur ein ganz normaler Mensch!

Ich atme,
ich esse und trinke
und ich muss auch auf’s Klo.

Abgesehen davon bin ich ein Sünder!

Wenn du so von dir denkst,
denkst du recht,
denn es ist wahr.
Doch Jesus Christus hat dich angenommen
mit Leib und Seele
und allen Lebensäußerungen von Leib und Seele.
Er hat dir seine Gnade verheißen
und dich erweckt zu neuem Leben. —
Gott will nicht den Tod des Sünders,
sondern dass wir leben.

Als der einzig-geborene Sohn Gottes
steht Jesus allein vor dem Vater.
Doch wenn du vor den Richterstuhl trittst,
steht er dort immer noch – 
und nimmt dich an die Hand.
Sein Gehorsam ist dein Gehorsam
und seine Freiheit ist deine Freiheit.
Jesus ist sanftmütig
und von Herzen demütig.
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So kannst du im Gericht bestehen.

Eine Universität stellt keine Stümper ein
und Hochstapler bestehen nicht als Professorin,
da bin ich ganz sicher.

An deiner Tür hängt ein Schild
mit deinem Namen drauf
und dem Titel dazu:
„Gerecht“.

Jesus Christus selbst hat es da hingehängt.
Dem sollst du glauben.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!11 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Vgl. Vers 5.


3 מִשְׁפָּט֙ Recht, Gerechtigkeit, Satzungen


4 וְאַ֣הֲבַת חֶ֔סֶד („die Gnade zu lieben“)


5 וְהַצְנֵ֥עַ לֶ֖כֶת עִם־אֱלֹהֶֽיךָ. BasisBibel wählt „bewusst“. Stuttgarter Erklärungsbibel bietet achtsam/aufmerksam/bereitwillig. Gesenius: einsichtsvoll, besonnen, bescheiden (herk. demütig) sein u. einsichtsvoll (od. bereitwillig?) wandeln, z.St.


6 2.Kor 3,6


7 Vgl. Bonhoeffer, DBW 6,288.


8 Nach Mt 5,18.


9 „Freiheit ist schöpferisch“ bei Bonhoeffer, ebd.


10 Vgl. Mt 11,29.


11 Phil 4,7


Manuskript zum Ausdrucken pdf, 1.3 MB)