16:35

Versuchung
Predigt zu 2.Kor 6,1–10

79 „Und führe uns nicht in Versuchung“ Invokavit, 6. März 2022, Frankfurt

Ist es Gott, der uns prüft, wenn uns das Leben schwer fällt?

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
steht im zweiten Brief des Apostel Paulus an die Korinther im 10. Kapitel:

6,1Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch,
dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt.
2Denn er spricht:
„Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört
und habe dir am Tage des Heils geholfen“.
Siehe,
jetzt ist die Zeit der Gnade,
siehe,
heute ist der Tag des Heils!

3Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß,
damit unser Amt nicht verlästert werde;
4sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes:

- in großer Geduld,
- in Trübsalen,
- in Nöten,
- in Ängsten,

- 5in Schlägen,
- in Gefängnissen,
- in Verfolgungen,
- in Mühen,

- im Wachen,
- im Fasten,
-
6in Lauterkeit,
- in Erkenntnis,

- in Langmut,
- in Freundlichkeit,
- im Heiligen Geist,
- in ungefärbter Liebe,

- 7in dem Wort der Wahrheit,
- in der Kraft Gottes,
- mit den Waffen der Gerechtigkeit
zur Rechten und zur Linken,

- 8in Ehre und Schande;
- in bösen Gerüchten und guten Gerüchten,
- als Verführer und doch wahrhaftig;
-
9als die Unbekannten, und doch bekannt;
- als die Sterbenden, — und
siehe!, wir leben;
- als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet;
-
10als die Traurigen, aber allezeit fröhlich;
- als die Armen, aber die doch viele reich machen;
- als die nichts haben, und doch alles haben.

Lasst uns beten: Herr Gott, Heiliger Geist, lass den Brief des Apostels nach Korinth, einen Brief an uns sein. Rede du zu uns durch die Worte des Apostels. — Amen.

Liebe Brüder und Schwestern,

seine Heiligkeit, Papst Franziskus, hat vor einiger Zeit angeregt, die deutsche Übersetzung der siebten Bitte des Vaterunsers zu überdenken. Wer betet:

„…und führe uns nicht in Versuchung“,

der könnte dem Missverständnis erliegen,
dass
Gott es sei,
der uns Menschen in Versuchung führt.
Dies sei aber undenkbar, so der Papst,
denn Gott ist ein
liebender Gott, dem wir vertrauen können. Gott würde uns niemals täuschen oder quälen wollen.

Der ein oder andere evangelische Kommentator
fühlte sich daraufhin befleißigt,
dem
Pontifex Maximus eine Griechisch-Lektion zu erteilen.
Und ja, es gibt
sprachlich nichts zu rütteln:
Die Bitte, wie sie uns Matthäus überliefert,
ist unzweideutig richtig übersetzt mit den Worten:

„…und führe uns nicht in Versuchung“.

Aber auch das seelsorgerliche Anliegen des römischen Bischofs wurde nicht übersehen.
Auch evangelische Theologen sehen die Gefahr,
dass man Jesu Worte missverstehen kann
und Gott für den Verursacher der Versuchung hält.
Sie verweisen auf Martin Luther,
der im Kleinen Katechismus klarstellt:

Gott versucht zwar niemand;
aber wir bitten in diesem Gebet,
dass uns Gott wolle behüten und erhalten,
auf dass uns
- der Teufel,
- die Welt
- und unser Fleisch
nicht betrüge und verführe in Missglauben, Verzweiflung… und Laster.

Der Reformator hat den Apostel Jakobus auf seiner Seite,
der in seinem Brief ausdrücklich schreibt,
dass Gott niemanden versuche.
2

Und dennoch formuliert Matthäus das Gebet Jesu mit Worten, die eindeutig zu übersetzen sind mit

„…führe uns nicht in Versuchung“

oder:

„Führe uns nicht in eine Situation, in der
- unser Glauben,
- unser Vertrauen auf Dich
- und unsere Liebe zu Dir
auf die Probe gestellt werden“.

Ich bin dankbar,
dass Jesus das so gesagt hat.
Um zu verdeutlichen warum,
möchte ich eine Situation erzählen,
die mir
so ähnlich letzte Woche passiert ist.

Was heißt hier „so ähnlich“?
Wenn ich in einer Predigt so etwas erzähle,
dann sind die
Gefühle echt
und die
Pointe halte ich für relevant.
Aber das Drumherum ist im Großen und Ganzen erfunden.

Jedenfalls hatte ich einen ehemaligen Konfirmanden aus Witten am Telefon.
Seine Freundin hat mit ihm Schluss gemacht.
Er hatte viel Hoffnung auf diese Beziehung gesetzt.
Sie war ein Lichtblick in einer echt dunklen Zeit für ihn.
Er ist ziemlich verzweifelt.
Und er begann diese Konversation am Telefon mit dem Worten:

„Gott ist ein Mistkerl“.

Das ist nicht einfach zu hören,
ich weiß – 
für die Gemeinde nicht
und für den Pastor auch nicht.

Wir, die wir etwas mehr Lebenserfahrung haben,
mögen das belächeln:

„Der Junge soll sich mal nicht so anstellen.
Es gibt schlimmeres!“

Ja, natürlich.
Es gibt schlimmeres im Leben,
als eine zerbrochene Beziehung.
Aber für ihn ist das jetzt erst mal ein herber Schlag.
Und er hat keinen frommen Filter:
Der Schmerz und die Wut poltern aus ihm ’raus.

Mit das Schlechteste,
was ich in dieser Situation hätte erwidern können,
ist eine systematisch-theologische Abhandlung:

„Es ist nicht Gott,
der dir den Schmerz verursacht,
sondern
- der Teufel,
- die Welt
- und dein Fleisch“.

Brüder und Schwestern, ich kann gut verstehen,
wenn jemand in der Gegenwart des Leides
und unter dem Eindruck des Schmerzes
das Gefühl hat,
dass Gott ihn verlassen hat,
oder dass Gott ihn erprobt.
Jesus weiß genau, wie sich das anfühlt.
Er weiß, was es heißt, Leiden und Schwachheit zu erleben.
3

Jesus wurde vom Geist in die Wüste geführt,
damit er von dem Teufel versucht würde.
4

Jesus ist wahrer Mensch und wahrer Gott.
Er ist versucht worden, und als einziger Mensch –
jemals–

„ohne Sünde“5

geblieben.
Aber den inneren Tumult, den Kampf,
den hat er geführt,
genau wie jeder von uns ihn führt.

Der Apostel Paulus schreibt an die Korinther
von seinem Leiden und seiner Schwachheit.
Er bietet eine lange Liste von Dingen, die ihm widerfahren sind.
Jeder dieser Begriffe ist für ihn mit einer ganz bestimmten Erinnerung verknüpft:

Geduld, Trübsal, Nöte, Ängste, …
Schläge, Gefängnisse, Verfolgungen, Mühen, …
Wahrheit, Kraft, Gerechtigkeit, Ehre und Schande

Das Entscheidende aber, ist das Vorzeichen,
unter dem er all diese Dinge sieht.
Paulus zitiert Jesaja mit den Worten:

„Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört
und habe dir am Tage des Heils geholfen“.
6

Und darauf schreibt er den Korinthern:

Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade,
siehe,
heute ist der Tag des Heils!7

Das Wort der Versöhnung ist unter uns lebendig und kräftig. Alles, was Paulus als Apostel erlebt hat,
steht unter
diesem Vorzeichen. —
Alles, was wir Christen erleben,
ist von Gottes Gegenwart durchdrungen, –
auch das Leid und die Schmerzen, –
auch die Momente, in denen wir das Gefühl haben,
Gott wäre gegen uns,
Gott führe uns in Versuchung.

Jesus lehrt uns beten:

Vater unser im Himmel, …
führe uns nicht in Versuchung.

Jesus redet nicht von einem abstrakten Gott,
„irgendwo da draußen“,
sondern von dem Gott, der unser Vater ist.

Wenn Jesus von „Versuchung“ redet,
steht das unter dem selben Vorzeichen,
das auch Paulus setzt:
Die Zeit der Gnade ist da!
Gott hat die Welt mit sich versöhnt.
8
Du bist eine neue Kreatur,
9
die im Reinen ist mit ihrem Schöpfer.
Alles, was Du erlebst, steht unter diesem Vorzeichen.
Gottes Gnade durchdringt dein Leben,
auch wenn Du Schmerz, Leid und Anfechtung erlebst.

Liebe Brüder und Schwestern,
heute ist der Sonntag
Invocavit.
Invocavit“ ist das erste Wort des Eingangspsalms,
wenn man ihn auf Latein ließt.
Das Wort heißt:

„Er ruft mich an“,

und der Psalm geht weiter:

darum will ich ihn erhören;
ich bin bei ihm in seiner Not,
ich will ihn herausreißen
und zu Ehren bringen.
10

Es ist Gott, der da redet. Er sagt dir:

Weil du zu mir betest,
will ich dich erhören.

Der Sonntag im Kirchenjahr,
der die
Versuchung zum Thema hat,
beginnt mit einer Zusage Gottes,
dass er unser Gebet erhört und in unserer Not bei uns ist.

Und der Psalmbeter antwortet:

Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt
und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,
der spricht zu dem Herrn:
Meine Zuversicht und meine Burg,
mein Gott, auf den ich Hoffe.

Er wird dich unter seinen Fittichen decken,
und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln.
11

Unter diesem Vorzeichen steht alles Reden von der Versuchung: Dass Gott für uns ist und nicht gegen uns.
Gott ist uns ein Fels und eine Burg – 
im Krieg, der von außen kommt,
aber auch in Krieg, der in uns selber stattfindet.

Und obwohl wir das wissen,
kann es Situationen geben, in denen wir zweifeln.
Ja, es kann passieren, dass wir das Gefühl haben,
Gott stelle uns auf die Probe.

Es ist für diese Momente,
dass wir beten:

Vater unser im Himmel, …
führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.

Das sind Worte,
die Jesus gewählt hat –
und der wusste, wovon er sprach.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!12 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Jak 1,13f


3 Vgl. Heb 4,14–16, die Epistellesung.


4 Mt 4,1, die Evangeliumslesung.


5 Vgl. Epistel!


6 Jes 49,8


7 V. 2b


8 Vgl. 2.Kor 5,19f, unmittelbarer Kontext der Perikope.


9 Vgl. 2.Kor 5,17, ditto.


10 ELKG 024


11 ELKG¹ 024, ELKG² 27.


12 Phil 4,7