16:35

Glauben ist auf dem Wasser gehen
Predigt zu Mt 14,23–35

78 Sexagesimae, 20. Februar 2022, Frankfurt

Ich erzähle von meinem Einsinken auf dem See des Glaubens und wie Jesus mich ’rausgezogen hat.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
steht beim Evangelisten Matthäus im 14. Kapitel.

Da diese Geschichte etwas länger ist,
bitte ich euch, euch zu setzen.

22Alsbald trieb Jesus seine Jünger,
in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren,
bis er das Volk gehen ließe.
23Und als er das Volk hatte gehen lassen,
stieg er allein auf einen Berg,
um zu beten.
Und am Abend war er dort allein.

24Und das Boot war schon weit vom Land entfernt
und kam in Not durch die Wellen;
denn der Wind stand ihm entgegen.
25Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen
und ging auf dem See.
26Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen,
erschraken sie und riefen: „Es ist ein Gespenst!“
und schrien vor Furcht.

27Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach:

Seid getrost, ich bin’s;
fürchtet euch nicht!

28Petrus aber antwortete ihm und sprach:

Herr, bist du es,
so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser.

29Und er sprach:

Komm her!

Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser
und kam auf Jesus zu.

30Als er aber den starken Wind sah,
erschrak er und begann zu sinken
und schrie:

Herr, hilf mir!

31Jesus aber streckte sogleich die Hand aus
und ergriff ihn
und sprach zu ihm:

Du Kleingläubiger,
warum hast du gezweifelt?

32Und sie traten in das Boot,
und der Wind legte sich.

33Die aber im Boot waren,
fielen vor ihm nieder und sprachen:

Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Lasst uns beten: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege!2 — Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

(0) in der Begrüßung habe ich bereits erwähnt,
dass dies eine sehr persönliche Predigt sein wird.
Predigten, in denen der Pfarrer eigenes Erleben erzählt,
sind ein zweischneidiges Schwert:

  • Auf der einen Seite sind sie lebensecht.
    Ich rede nicht
    über eine Glaubenskrise,
    die man
    theoretisch haben könnte,
    sondern ich rede als einer,
    der in einem Glauben steht,
    der
    diese Krise erlebt hat.
  • Auf der anderen Seite kann das leicht peinlich werden,
    wenn der Pastor aus den Nähkästchen erzählt.
    Auch für mich als „Berufschrist“
    berührt der Glaube etwas Privates, ja Intimes.
    Das hat hier – in der Öffentlichkeit –
    eigentlich nichts zu suchen.

Der Gegenstand meiner Glaubenskrise ist aber nicht nur privat.
Es geht um die Bibel und wie sie übersetzt wird.

Wir haben gerade in der Epistel gehört:

Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig
und schärfer als jedes zweischneidige Schwert,
und dringt durch,
bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein…

Zinzendorf dichtet:

Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten,
worauf soll der Glaube ruh’n?
Mir ist nicht um tausend Welten,
sondern um dein Wort zu tun.

Wir sagen die Bibel sei unsere „Heilige Schrift“.
Hier begegnet uns Gottes Wort.
Das ist ein Glaubensbekenntnis.
Und wie bei jedem Bekenntnis,
das wir als Kirche teilen,
stellt sich die Frage,
was das für dich persönlich bedeutet.

Ich habe drei Schritte mit uns vor:

(1)Ich werde ein bisschen was sagen zur Vorgeschichte,
damit man versteht, was mich so getroffen hat.

(2)Dann werde ich sie mitnehmen auf den See
und ihnen zeigen, wo ich eingesunken bin.

(3)Am Ende möchte ich eine Sache sagen,
wo ich mich immer wieder daran erinnere,
wie Jesus mich aus dem Wasser gezogen hat.

Wir kennen alle die Geschichte aus der Bibel:
Die Geschichte geht gut aus!
Jesus zieht den zweifelnden Petrus aus dem Wasser.
Ich stehe hier. Mein Glaube hat die Krise überstanden.

(1) Erstens: Zur Vorgeschichte.

Ich sage manchmal – so halb im Scherz –,
ich sei zur Theologie gekommen,
wie die Jungfrau zum Kind —
also durch den Heiligen Geist.

Ich habe in Dortmund studiert
und aus akademischem Interesse
habe ich mich in eine Veranstaltung gesetzt,
um mehr über das Christentum zu erfahren.
Ich war sehr schnell fasziniert,
von dem, was ich gelernt habe.
Das hat mich damals sehr überrascht.
Damit hatte ich nicht gerechnet.

Das Ergebnis kennt ihr:
Ich habe noch mal komplett neu angefangen zu studieren
und habe es bis zum Pfarrer der Trinitatisgemeinde gebracht.
Das ist keine schlechte Kariere!

Ein Schlüsselmoment ganz zu Anfang in Dortmund
war,
dass ich etwas kennengelernt habe,
das heißt: „historisch-kritische Auslegung der Bibel“.
„Historisch-kritisch“ hat mein Professor damals ungefähr so erklärt:

Wir lesen die Bibel als Literatur.
Wir stellen hier
Wissensfragen.
Glaubensfragen stellen sie in der Dogmatik.

Für mich,
in dem Moment,
war das sehr, sehr hilfreich,
weil es meinem Umgang mit der Bibel
eine Last genommen hat.

  • Ist Israel wirklich durch das Tote mehr gezogen?
  • War Jona wirklich im Fisch?
  • Ist die Welt wirklich in sieben Tagen entstanden
    und womöglich eine Scheibe?

Diese und ähnliche Fragen
konnte ich bequem zur Seite schieben
und konnte die Bibel sehr frei
und mit offenem Herzen lesen.
Gott hat durch die Schrift in dieses offene Herz gesprochen.
Das ist ein wesentlicher Schritt
auf meinem Weg hin zu Glauben und Bekenntnis,
auf dem Weg vom Programmierer in Dortmund
zum Pfarrer in Frankfurt.

Als ich nach Oberursel kam,
habe ich dort eine ganze Reihe von Studenten getroffen,
deren Erleben ganz anders war.
Sie hatten einen „frommen“, kirchlich geprägten Hintergrund.
Für sie war die Trennung von Bibel und Glaube
ein echter Angang.

Ich habe da wenig Verständnis für gehabt –
auch mit einer gewissen Arroganz:
Das hatte für mich so gut funktioniert,
da muss das für die auch klappen:

Wir sind im 21. Jahrhundert – 
komm drüber weg!

Diese Haltung ist mir dann auf die Füße gefallen,
als es mir selber ganz ähnlich ging.
Damit kommen wir zum zweiten Teil:
meinem Einsinken.

(2) Wir hatten ein Seminar in Bochum
und ein Professor berichtet von seiner Arbeit
in der Kommission,
die die 2017er Revision der Lutherbibel vorbereitet.
Es ging konkret um das Ende des Matthäus-Evangeliums:

Jesus Christus spricht:

Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. 19Darum gehet hin und lehret alle Völker:
Taufet sie auf den Namen des Vaters
und des Sohnes
und des Heiligen Geistes
20und lehret sie halten alles,
was ich euch befohlen habe.

Und siehe, ich bin bei euch alle Tage
bis an der Welt Ende.

Ich habe für den Konfirmandenunterricht
von meiner Kirchengemeinde eine Lutherbibel geschenkt bekommen. Da steht:

Darum gehet hin
und
machet zu Jüngern alle Völker…

„Ja“, hat der Professor gesagt,
„das ist falsch übersetzt“.

„Momeeent…“ – 
Der Student von heute guckt sofort ins Wörterbuch
(auf dem Handy natürlich).
Da steht „zu Jüngern machen“.

„Ja“, sagt der Professor,
„das steht da,
weil das seit der Jahrhundertwende so in der Bibel steht.
Stimmt trotzdem nicht“.

  • Niemand in der Antike meinte,
    das Wort hieße „zu Jüngern machen“.
  • Keiner der Kirchenväter meint,
    das Wort hieße „zu Jüngern machen“.
  • Die lateinische Bibel aus dem Mittelalter
    und noch Martin Luther, 1545, übersetzt
    „Darumb gehet hin
    vnd leret alle Völcker
    vnd teuffet sie…“

„Lehren“
und „zu einem Jünger machen“
sind nicht unendlich weit voneinander entfernt.
Ein „Jünger“, das ist einer, der lernt.
Das bedeutet das griechische Wort: „Lerner“.

Die Übersetzung bekommt aber einen ganz anderen Klang,
wenn man es in einer anderen Zeit hört:
Als der deutsche Kaiser meinte,
„am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ –
und dazu müsse man Allewelt „zu Jüngern machen“.
Es geht also um Kulturimperialismus
im Namen des Deutschtums,
nicht um Mission
im Namen Jesu. –
Das sind zwei verschiedene Dinge.

Ich war an diesem Tag fassungslos,
dass sich diese Ideologie in meine Bibel eingeschlichen hatte –
und in mein Wörterbuch.

Wie soll ich der Bibel jetzt noch trauen?
Jetzt kann ich selber übersetzen –
und noch mein Wörterbuch
führt mich in die Irre.

Ich erzähle euch das nicht,
weil ich meine,
irgendjemandes Taufe stände in Frage. –
Tut sie nicht:

  • Wir taufen auf Jesu Befehl hin,
    ganz egal,
    wie er übersetzt ist.
  • Jesu Wort und das Wasser der Taufe sind wesentlich,
    nicht was ich meine,
    was die Vokabeln heißen.

Ich erzähle euch das,
weil ich all diese Dinge damals nicht parat hatte.
Statt dessen hatte ich das Gefühl,
- ich sinke ein,
- mein Glaube zerfließt,
- der Weg, den ich genommen habe, führt ins Leere.

Ich sehe die Bibel nach wie vor als Literatur.
Doch in und unter dem Wort der Menschen
hat Gott zu mir gesprochen.
Er hat mich bei meinem Namen gerufen.
Er hat mein Leben von Grund auf geändert. —
Aber all das stand mit einem mal in Frage.
Ich war fassungslos.

In der Geschichte vom sinkenden Petrus
greift Jesus seinen Jünger bei der Hand
und zieht ihn aus dem Wasser.
Und auch mich hat er in meiner Krise nicht allein gelassen,
sondern ist mir in Menschen begegnet,
die mich aufgefangen haben.

Das war für mich ein wichtiges Erlebnis:
Wir stehen im Glauben an Jesus Christus nicht alleine da.
Von den ersten Jüngern an,
über diejenigen, die das Neue Testament geschrieben haben,
die Kirchenväter, Reformatoren und Pastoren,
und überhaupt alle Menschen,
die Jesus im Glauben folgen:
- Sie sind der Leib Christi.
-
Ihr seid der Leib Christi,
die Kirche.
In der Kirche wird der Glaube gelebt
und mit Leben gefüllt.
In ihr wird Zweifel überwunden.

Ihr seid der Leib Christi. —
Das ist ein starkes Bild:
Du magst einem sinkenden Zweifler
die Hand Jesu werden,
die ihn auf das Wasser zurückzieht.
Ein Wort oder eine Geste von dir
können eine große Wirkung haben für einen anderen Menschen.

Das Gewebe unserer Gemeinde,
- aus den Beziehungen, die wir pflegen
- und die Blicken, die wir schenken:
Es kann zu einem Fangnetz für den Glauben werden.

(3) Ich bin dankbar dafür,
dass Christus mich in den großen
und den kleinen Krisen des Glaubens
ergreift und wieder ins Boot holt.
Deswegen möchte ich euch zum Schluss eine Sache sagen,
die mich immer wieder daran erinnert:

Wenn ich die Gemeinde gesegnet habe,
am Ende des Gottesdienstes,
dann verbeuge ich mich vor ihr.

Die Kirche,
die Gemeinde,
ihr Christenmenschen:
Hier begegnet mir Jesus Christus.
Ich verbeuge mich vor ihm.

Du kannst einem Menschen zu Christus werden,
wenn du glaubst. –
Und wenn du zweifelst,
bist du nicht allein,
sondern geborgen
und seine Hand ergreift dich.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!3 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ps 119,105


3 Phil 4,7