13:59

„Wenn’s ans Erben geht…“
Predigt zu Gen 50,15–21

60 4. So. n. Trinitatis, 27. Juni 2021, Bremen

Josephs Brüder greifen zu Lüge und Niedertracht, um etwas von ihm zu bekommen. Warum? Und warum so?

Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater Jakob1 gestorben war, und sprachen: „Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben“. Darum ließen sie ihm sagen: „Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: ‚So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, daß sie so übel an dir getan haben‘. Nun vergib uns diese Missetat auch […]!“2

Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten.

Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: „Siehe, wir sind deine Knechte“. Josef aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen“.

Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Lasst uns beten: Herr Gott, himmlischer Vater, öffne uns Ohren und Herzen. Gib, dass dein Wort bei uns auf guten Boden falle und Frucht bringe.— Amen

Ihr lieben!

„Wenn’s ans Erben geht, lernt man seine Verwandten kennen!“ Das ist eine Weisheit, die auch in christlichen Kreisen ihr Recht hat. Ich möchte heute Morgen eine Begebenheit aus unserer Zeit und Welt erzählen, die dem sehr ähnlich ist, was unser Bibeltext schildert. Ähnlichkeiten mit lebenden oder gestorbenen Personen, insbesondere Personen aus dieser Gemeinde, sind rein zufällig. Ich sage das so ausdrücklich vorweg, damit niemand meint, ich hätte etwas gehört von dem Streit in seiner Familie. Nein! Ich habe alles erfunden. Es geschehen aber immer wieder Dinge, die dem hier ähnlich sind:

Die Huberts sind eine Familie von Anstreichern. Opa Hubert war Anstreicher, Vater Hubert war Anstreicher und Hubert Junior, der älteste der Brüder, ist auch Anstreicher. — Der jüngste Bruder wollte nie Anstreicher werden. Er kannte sich eh aus, weil er seit Kindesbeinen im Betrieb geholfen hat. Warum sollte er dann noch eine Ausbildung machen? Nach dem Abitur hat er erst mal eine Weltreise gemacht, dann ist er zur See gefahren und hat sich mehr-schlecht-als-recht durchgeschlagen. Jetzt ist er „Mitte dreißig“ und will sein Leben (endlich!) auf die Reihe kriegen. Er macht ein Fachgeschäft auf für Farben und Lacke: einen Anstreicher-Großhandel.

Als der Vater auf die 80 Jahre zugeht, merkte die Familie, dass er so richtig „tüddelig“ wird, wie man in Norddeutschland sagt. Das heißt, die Demenz war derart fortgeschritten, dass der Alte Herr sie nicht mehr verstecken konnte. Als es so schlimm wurde, dass es nicht mehr ging, hat die Familie entschieden, dass er ins Heim geht. Dem jüngsten Bruder fiel die Aufgabe zu, die Vormundschaft für den Vater zu übernehmen. Da sind Mietverträge zu kündigen und Abonnements. Da sind Pflegestufen und Zuschüsse zu beantragen und der gleichen mehr.

Als der Vater starb, ging es ans Erben. Die laufenden Kosten für das Heim usw. waren über das Girokonto des Vaters abgewickelt worden. Aber ansonsten war das Geld weg. Die Geschwister haben das Konto aufgelöst und bekamen die letzten Auszüge. Das Geld war abgehoben worden. Der einzige, der es hätte machen können war der Jüngste. Zur Rede gestellt sagte er:
„Ja, ich habe das Geld genommen“.

„Bitte?“ – sagen die Geschwister.

„Ich brauchte es für mein Geschäft.
Ich wollte es zurückzahlen…“

„Schön!“

Jeder von Euch, liebe Brüder und Schwestern, kann sich leicht ausmalen, wie dieses Gespräch weiter geht.

Warum hat er das gemacht, der jüngste Bruder?
Und viel wichtiger: Warum hat er es so gemacht?

  • Er hat, rundheraus gesprochen, geklaut.
  • Der Vater liegt in seiner Demenz im Heim und ist wehrlos. Statt ihn zu ehren und zu schützen nutzt der Sohn seine Hilflosigkeit.
  • Seine Geschwister hat er betrogen um ihren Erbteil.

Ich stelle mir die Familie, die ich erfunden habe, nicht als arme Leute vor. Die hätten sich nicht gewehrt gegen ihren Teil des Geldes, aber einzige, der richtigen Bedarf hatte, ist der Jüngste. So war das aber nicht in Ordnung. Er war nicht geradeaus, er war nicht ehrlich. Er war hintenrum er war rundheraus niederträchtig.

Die Brüder von Joseph in der biblischen Geschichte handeln ganz ähnlich. Sie sind auch nicht geradeaus und ehrlich. Sie lügen ihren Bruder an / und behaupten, Vater Jakob hätte ihm befohlen, ihnen zu vergeben. Der macht das auch und sagt dann richtig:

„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen,
aber Gott gedachte es gut zu machen“.

Joseph war bereit und in der Lage, seinen Brüdern zu vergeben. Er war ein mächtiger Beamter geworden und sie sind von ihm abhängig. Wenn er auf Rache ausgewesen wäre, hätte er sie längst durchziehen können. – Warum greifen sie trotzdem zur Lüge?

Die Antwort ist genau die gleiche wie beim jüngsten Sohn aus meiner Geschichte:

Weil sie nicht mit Annahme rechnen.

Der Jüngste Sohn von den Hubert-Kindern hat seinem Vater in die Kasse gegriffen,
weil er
nicht damit gerechnet hat,
dass seine Geschwister ihn unterstützen würden.

Josephs Brüder haben über die letzten Worte ihres Vaters gelogen,
weil sie nicht damit gerechnet haben,
dass Joseph von sich aus bereit wäre, ihnen zu vergeben.

Wenn die Beziehungen und Vertrauensverhältnisse von Menschen so gestört sind, ist das immer auch ein Zeichen für eine tiefsitzende Störung der Gottesbeziehung:
Wenn wir davon ausgehen,
von Menschen nicht an
genommen zu werden,
gehen wir auch davon aus,
von Gott nicht angenommen zu werden.

So wie die Geschwister in den beiden Geschichten zu Lüge und Niedertracht greifen, greifen auch wir immer wieder daneben. Das ist ein wichtiger Aspekt von dem, was die Kirche „Sünde“ nennt: Wir verletzen die Beziehungen zu unseren Mitmenschen und zu Gott, aus Angst, nicht angenommen zu werden. Mit anderen Worten: Aus Unglauben.

  • „Glauben“ ist nicht in erster Linie das Für-wahr-halten von Dogmen.
  • „Glauben“ ist in erster Linie,
  • dass ich mich bei Gott angenommen weiß;
  • dass ich mein Leben in dem Bewusstsein lebe, dass er mich liebt,
  • auch wenn ich was ausgefressen habe,
    wie die Brüder von Joeseph,
  • auch wenn mein Geschäft schlecht läuft,
    wie bei dem jüngsten Hubert-Bruder,

    …dass ich in dem Bewusstsein lebe,
    angenommen zu sein,
  • auch wenn ich diesem oder jenem Ideal
    nicht entspreche.

Der Glauben daran, dass man bedingungslos angenommen ist, ist eine wichtige Grundlage für das Zusammenleben von uns Menschen untereinander und mit Gott.

  • In dem Wissen, dass sie bedingungslos angenommen sind, hätten sich Josephs Brüder Lüge und Demütigung erspart.
  • In dem Wissen, dass er bedingungslos angenommen ist, hätte der jüngste Bruder in meiner Geschichte seinen Geschwistern von seinen finanziellen Problem erzählen können. Dann kann man gemeinsam nach Lösungen suchen.
  • Wie wichtig ist es für ein Kind, zu wissen, dass es bedingungslos angenommen ist.
  • Wenn man etwas ausgefressen hat, dass man zu Mama und Papa gehen kann und nicht lügen braucht. Wie viel neue Schuld und schlimme Sünden entstehen aus Lügen?
  • Oder zum Beispiel, wenn es um Sexualität geht.
    Es ist keine Sünde, Fragen zu haben.
    Aber wie viel Sünde entsteht daraus, dass man mit seinen Fragen nicht angenommen ist, sondern sich schämt. Wie viele junge Leute gehen blind und unwissend mit ihrer Sexualität um. Sie haben niemanden, dem sie sich anvertrauen können. Sie fühlen sich nicht angenommen.
  • Wie wichtig ist es in einer Freundschaft oder Ehe, dass man über alles reden kann. Wie viel Sünde entsteht daraus, dass man schweigt oder lügt.
  • Oder dass man zu seinem Geschäftspartner oder zum Chef gehen kann und sagen kann, „So-und-so sieht’s aus“. Wie viele Probleme (von mir aus auch hier: „Sünden“) entstehen daraus, dass man etwas schönredet oder verwischt.

Wie tief dieser Zusammenhang zwischen Glaube und Sünde im christliche Denken verwurzelt ist, sieht man daran, dass das Wort „bekennen“ diese zwei Richtungen hat:

(1)Wir bekennen uns zu Gott: „Ich glaube, an Gott, den allmächtigen Vater…“

(2)Wir bekennen vor Gott unsere Sünde.

„Sündenbekenntnis“ und „Glaubensbekenntnis“ sind zwei Seiten einer Medaille. An Gott glauben heißt, dass wir unser Leben leben in der Gewissheit, dass wir angenommen sind, auch als Sünder. Deswegen können wir frei heraus unsere Sünden bekennen – und dadurch bändigen.

Woher wissen wir, dass Gott uns annehmen wird?
Woher wissen wir, dass das auch uns gilt?

In der Josephs-Geschichte heißt es, dass Gott Joseph gesegnet und begleitet hat, um Israels willen:

Gott will „sein auserwähltes Volk am Leben erhalten“.

Deswegen hat er das Leben des verkauften Joseph so geführt, dass er seine Brüder vor dem Hungertod bewahren kann.

Unser Leben nimmt Gott an um Christi willen. Für uns und um unseres Heiles willen erlitt er den Tod am Kreuz. Als Erstling der neuen Schöpfung ist er auferstanden. Dieser Tod und diese Auferstehung sind dein Tod und deine Auferstehung geworden in der der Taufe. Du bist der Sünde gestorben. Du bist befreit von alledem und angenommen als ein Kind Gottes. Nichts, nichts brauchst du verheimlichen und „hintenherum“ lösen. Mit allem, was dich beschwert kannst du geradeheraus zu ihm kommen.

„Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“3

Für dich als einzelnen und für uns als Gemeinschaft. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!4 Amen.

1 „Jakob“ steht nicht im Bibeltext.


2 Etwas besser verständlich formuliert.


3 1.Kor 8,11


4 Phil 4,7