17:27

Ich befehle meinen Geist in deine Hände
Predigt zu Ps 31

50 Auszüge aus Estomihi, 14. Februar 2021, Bremen

In dieser Predigt stelle ich drei Beter des 31. Psalms vor in der Hoffnung, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den dreien eine Saite in uns anschlagen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist 31. Psalm, so wie wir ihn gerade als Lesung gehört haben.

Lasst uns beten:
Herr Gott, Heiliger Geist,
lass uns hören auf das Wort des Psalms
als ein Wort für uns. — Amen

Liebe Brüder und Schwestern,
(0) in dieser Predigt werde ich euch drei Beter des 31. Psalms vorstellen.
Zwei von diesen dreien habe ich frei erfunden.
Ich muss nicht dazusagen, welche das sind;
das merkt man so.

Psalmen sind Gedichte,
die schon vielen Menschen Worte für
ihr Gebet gegeben haben.
Ich möchte mit meinen drei Beispielen
drei Schlaglichter setzen.
Ich suche Gemeinsamkeiten bei diesen dreien,
in der Hoffnung,
dass ihr Beten des Psalms eine Saite in
uns anschlägt.

(1) Der erste Beter,
den ich uns vor Augen malen möchte,
heißt Samuel.
Er lebte in Jerusalem, ca. 500 Jahre vor Christus.
2

Samuel hat eine einschneidende Erfahrung hinter sich:
Er hat eine schwere Krankheit durchlitten.

Wir müssen uns für die Antike vorstellen,
dass die Menschen durch jede Krankheit
in den Bereich des Todes kommen.
Der Tod war ihrem Leben viel näher,
als das für uns der Fall ist.
Der Tod gehört auch viel öfter zum Alltag.

Jede Ansteckung,
und jede Entzündung
kann dich aufs Krankenbett bringen.
Wundbrand kann jede Verletzung befallen.
„Tetanus“ kennen wir nur noch als Impfung,
für Samuel war es eine echte Gefahr.

Abgesehen von Haus- und Naturheilmitteln,
war der Körper auf sich gestellt.
Das Immunsystem bekämpft die Krankheit mit Fieber.
Das kostet viel Kraft.

Man liegt da
und ist der Krankheit hilflos ausgeliefert.
3
In den schweren Stunden traut man sich kaum zu atmen.
Es fühlt sich an,
als sickert das Leben mit jedem Atemzug aus einem heraus.
4
Für manch einen wurde das Krankenbett zum Totenbett.

10Herr, sei mir gnädig,
denn mir ist angst!
Mein Auge ist trübe geworden vor Gram,
matt meine Seele und mein Leib.

11Mein Leben ist hingeschwunden in Kummer
und meine Jahre in Seufzen.
Meine Kraft ist verfallen […],
und meine Gebeine sind verschmachtet.

Samuel blickt zurück auf diese Erfahrung.
Er ist dem Tod „von der Schüppe gesprungen“,
wie man so sagt.
Er ist aus dem Bereich des Todes zurückgekehrt
in den Bereich des Lebens.
Deswegen findet er besonders schön,
dass der Psalm diese Erfahrungen einrahmt
in Worte des Gotteslobes und des Dankes.

Es gibt eine Vers, der ihm besonders gut gefällt.

6In deine Hände befehle ich meinen Geist;
du hast mich erlöst,
Herr, du treuer Gott.

Dieser Vers verbindet Todesangst und Lebensfreude.
Das Vertrauen, das ihm in der Not geholfen hat,
wird zu Lobpreis – jetzt, da sie überstanden ist.

(2) Liebe Brüder und Schwestern,
wir begleiten in der Passionszeit einen Menschen
aus dem Leben in den Tod.
Wir begleiten Jesus Christus „hinauf nach Jerusalem“.

Im Evangelium haben wir heute eine Episode gehört,
in der das den Jüngern besonders deutlich wird.

Jesus predigt:

Der Menschensohn muss viel leiden…
verworfen werden…
und sterben…
und nach drei Tagen auferstehen.
5

Petrus nimmt Jesus zur Seite.
Er sorgt sich um seinen Lehrer und Freund.
Doch Jesus weist ihn scharf zurück:

Heb dich fort, Satan!
Denn du willst nicht was göttlich,
sondern was menschlich ist.

Das ist ganz schön hart.
Vielleicht zeigt sich hier Jesus’ eigener Kampf.
Die Angst,
die ihn in Gethsemane zittern macht,
kommt hier als Wut an die Oberfläche.
Jesus Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott.
Als wahrer Mensch geht Jesus diesen Weg
bis in den Tod.

Der Evangelist Lukas beschreibt die letzte Szene am Kreuz so:

44Es war schon um die sechste Stunde,
und es kam eine Finsternis über das ganze Land
bis zur neunten Stunde,
45und die Sonne verlor ihren Schein,
und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.

46Und Jesus rief laut:

„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“

Und als er das gesagt hatte,
verschied er.

Jesus ist der zweite Beter des 31. Psalmes,
den ich heute morgen ansprechen möchte.
Jesus betet diese Worte am Kreuz.

Ich finde bemerkenswert,
dass zu dem Halbvers,
den er betet,
noch die zweite Hälfte gehört:

6In deine Hände befehle ich meinen Geist;
du hast mich erlöst,
Herr, du treuer Gott.

Natürlich wusste Jesus von der Auferstehung.
Im Evangelium heute redet er ausdrücklich davon,
dass der Menschensohn
sterben und auferstehen muss.
Doch das theoretisch
zu wissen ist eine Sache,
es zu durchleben eine ganz andere.

Deswegen freut es mich zu sehen,
dass der Mensch Jesus
auch an der Schwelle zwischen Leben und Tot
seinen Geist in Gottes Hand gibt.
Er tut dies aber ist nicht wie einer,
der es eh nicht ändern kann,
sondern als einer der weiß:

Du hast mich erlöst, Herr,
du treuer Gott.

(3) Als letzten Beter des Psalmes
möchte ich uns Menschen vor Augen malen,
der hier und heute leben könnte.
Sein Name ist Ernst.
Ernst war Familienvater.
Er hatte eine Frau und eine Tochter
bis zu dem Autounfall, bei dem sie beide starben.
Ernst saß am Steuer.
Er hat überlebt, er kam ins Krankenhaus
und als er entlassen wurde,
kam er in die leere Wohnung zurück.

Ernst war gut integriert in seine Nachbarschaft.
Die Freunde sind gekommen und haben ihm geholfen.
Sie haben mit ihm geredet.
Das hat sehr gut getan.
Seine Freunde und Verwandte haben ihm geduldig zugehört,
wenn er erzählt hat,
- dass die Reifen nicht mehr die neuesten waren,
- dass die Straße nass war
- und „Wer hätte gedacht,
dass die nassen Blätter so rutschig wären?“
„Ja, Ernst, wer hätte das gedacht“.

Nach einer Weile ging Ernst ihnen mit seiner Geschichte
auf die Nerven;
erst ein bisschen,
aber nach einem Jahr merken seine Freunde,
dass ihnen das zu einer echten Last wird.
Sie gehen nicht mehr ans Telefon.

„Ne, den Ernst, den ertrage ich jetzt nicht!“

Wenn sie Ernst von weitem sehen,
gehen sie ihm auf der Straße aus dem Weg.

Würde Ernst den 31. Psalm kennen,
könnte er ihn 1:1 nachsprechen:

11Mein Leben ist hingeschwunden in Kummer,
meine Jahre in Seufzen.
Meine Kraft ist verfallen durch meine Missetat.
Mein Gebein sind verschmachtet.

12[…]Ich bin meinen Nachbarn eine Laste geworden
und ein Schrecken meinen Bekannten.
Die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir.

Ernst verliert seinen Halt,
seine Gemeinschaft.
Dann verliert er auch seine Arbeitsstelle
und seine Wohnung.
Heute lebt Ernst auf der Straße.

Ich war neulich gegen Abend in der Bremer Innenstadt.
Da war jemand,
der schlug so die Arme um sich
und joggte immer ein paar Meter auf und ab.

Erst dachte ich: „Was macht er denn da?“
Und dann sah ich sein Lager:
eine Plane, eine Matratze und ein Schlafsack.
Und ich dachte so bei mir:

Meine Güte!
Du musst heute Nacht draußen pennen –
und das in deinem Alter!

Ich habe einmal bei Frost draußen geschlafen,
da war ich 20 und bei der Bundeswehr.

Jedenfalls können wir uns Ernst so vorstellen.

An einem Abend hat er Glück gehabt:
Er hat bei einer Kirchengemeinde warm gegessen.
Das ist schon mal eine gute Voraussetzung dafür,
dass er die Nacht überlebt.

In der Kirche war auch eine Diakonin,
die hat eine Andacht gehalten.
Aus der Predigt sind Ernst zwei Dinge im Gedächtnis geblieben:

Erstens, wie Jesus am Kreuz stirbt
und dass er sagt:

„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“

Zweitens, hat die Diakonin gesagt:

Dir sind deine Sünden vergeben;
wegen Jesus –
sind deine Sünden dir vergeben.

Ernst kann nicht mehr.
Die Müdigkeit ist zu groß.
Er kann nicht mehr hin und her joggen.
Aber er weiß: Wenn er sich jetzt hinsetzt und einschläft,
ist es gelaufen.
Deswegen kriecht er in seinen Schlafsack.
Er geht damit ein Risiko ein:
Die Gefahr, dass er nicht aufwacht, ist real.
Der letzte Gedanke, den er fasst, ist dieses Gebet:

„Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“

Ernst schafft es,
er wacht am nächsten Morgen auf.
Mit der aufgehenden Sonne fasst er einen Entschluss:
Er wird zum Sozialamt gehen und Hilfe beantragen.
Er weiß ja im Prinzip, wie das geht.
Er war in der Schule, er hat eine Berufsausbildung.
Er kann das,
doch ach all dem, was passiert war,
stand er sich selbst im Weg. —
Das ist jetzt weg.

Sein Weg wird jetzt auch nicht gerade einfach.
Da sind Gewohnheiten eingerissen
und viele Dinge sind weggebrochen.
Ernst wird nicht vom einen auf den anderen Tag
wieder ins Arbeitsleben einsteigen können;
aber die Fessel, die ihn gebunden hat,
die ist abgefallen von ihm.

„Dir sind deine Sünden vergeben“.

Christus ist auferstanden
und Ernst mit ihm.

(4) Liebe Gemeinde,
ich habe uns drei Beter des 31. Psalms vor Augen gemalt:
- einen lange vor Jesus,
- Jesus Christus selbst
- und einen lange nach Jesus.
Wenn wir diese drei auf einem Zeitstrahl einzeichnen würden,
würden wir sie von links nach rechts nebeneinander aufmalen.
Das ist, wie wir Menschen Zeit sehen.

Gott aber, guckt sich den Zeitstrahl von der Ewigkeit aus an.
Von Gott aus gesehen, ist der Zeitstrahl ein Punkt.
Von ihm aus gesehen,
liegt das Bild dieser drei Menschen übereinander.

Wer Psalmen betet,
stimmt in das Gebet Christi mit ein.
Wer Psalmen betet,
ist auf einer Linie mit Gottes Sohn.

Gott erkennt
- im Gebet des Tempels,
- im Gebet der Kirche aller Zeiten
- und in
deinem Gebet
die Stimme seines Sohnes Jesus Christus. — Amen.

24Liebet den Herrn, alle seine Heiligen! […]
25Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des Herrn harret!

Amen.

Predigtabschnitt Psalm 31 (gekürzt)

1Ein Psalm Davids, vorzusingen.

2Herr, auf dich traue ich,
lass mich nimmermehr zuschanden werden,
errette mich durch deine Gerechtigkeit!

3Neige deine Ohren zu mir,
hilf mir eilends!

Sei mir ein starker Fels und eine Burg,
dass du mir helfest! […]

6In deine Hände befehle ich meinen Geist;
du hast mich erlöst,
Herr, du treuer Gott.

[…]

8Ich freue mich
und bin fröhlich über deine Güte,
dass du mein Elend ansiehst und nimmst dich meiner an in Not
9und übergibst mich nicht in die Hände des Feindes;
du stellst meine Füße auf weiten Raum.

* * *

10Herr, sei mir gnädig,
denn mir ist angst!
Mein Auge ist trübe geworden vor Gram,
matt meine Seele und mein Leib.

11Mein Leben ist hingeschwunden in Kummer
und meine Jahre in Seufzen.
Meine Kraft ist verfallen durch meine Missetat,
und meine Gebeine sind verschmachtet.

12Vor all meinen Bedrängern bin ich ein Spott geworden,
eine Last meinen Nachbarn
und ein Schrecken meinen Bekannten.
Die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir.

13Ich bin vergessen in ihrem Herzen wie ein Toter;
ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.

15Ich aber, Herr, hoffe auf dich.
Ich sage: Du bist mein Gott!
16Meine Zeit steht in deinen Händen.

[…]

22Gelobt sei der HERR;
denn er hat seine wunderbare Güte mir erwiesen in einer festen Stadt.
23Ich sprach wohl in meinem Zagen:
Ich bin von deinen Augen verstoßen.
Doch du hörtest die Stimme meines Flehens,
als ich zu dir schrie.

24Liebet den Herrn, alle seine Heiligen!
Die Gläubigen behütet der
Herr
und vergilt reichlich dem, der Hochmut übt.
25Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des Herrn harret!6

1 1.Kor 1,3


2 Datierung und Redaktionsgeschichte von Psalmen ist hier nicht mein Thema und auch der „Sitz im Leben“ der Psalmen oder dieses Psalms steht hier nur schemenhaft im Hintergrund. Inhaltlich klar ist, dass es sich um das Gebet eines Einzelnen handelt. Darüber hinaus impliziere ich hier keine exegetischen Thesen.


3 Seeleute wissen noch, wie es sich anfühlt, ausgeliefert zu sein: „Kap Horn liegt auf Lee, jetzt heißt es auf Gott vertrau‘n“. […] So weit reicht das Gottvertrauen im Shanty dann aber auch nicht: „Auf, Matrosen, ohé, einmal muß es vorbei sein, einmal holt uns die See und das Meer gibt keinen von uns zurück“ („La Paloma“ Yradier/Eisbrenner, Text: Helmut Käutner, 1944). Manchmal ist es aber auch einfach gesund, sich abzufinden damit, wie es ist.


4I know what it means to freeze to death. / To lose a little life with every breath. – “The Frozen Man” by James S. Taylor / David N. Brown


5 Nach Mk 8,31.


6 Die Auswahl konzentriert den Psalm auf die Motive, die ich besprechen möchte, und glättetet Kanten, die ich erklären müsste (z.B. „hassen“ V. 7).