15:13

Der Sohn von Ausländerinnen
Predigt zu Ruth 1,1–19a

47 3. So. n. Epiphanias, 24. Januar 2021, Bremen

Vorurteile können eine richtig gute Sache sein, doch sie können auch zu einem Fluch werden.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist der Anfang des Buches Rut.
Dort steht:

1,1Zu der Zeit, als die Richter richteten,
entstand eine Hungersnot im Lande.
Und ein Mann von Bethlehem in Juda
zog aus ins Land der Moabiter,
um dort als Fremdling zu wohnen,
mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen.
2Der Mann hieß Elimelech
und seine Frau Noomi
und seine beiden Söhne Machlon und Kiljon;
die waren Efratiter aus Bethlehem in Juda.

Und als sie ins Land der Moabiter gekommen waren,
blieben sie dort.

3Und Elimelech, Noomis Mann, starb,
und sie blieb übrig mit ihren beiden Söhnen.
4Die nahmen moabitische Frauen;
die eine hieß Orpa,
die andere Rut.

Und als sie ungefähr zehn Jahre dort gewohnt hatten,
5starben auch die beiden, Machlon und Kiljon,
so dass die Frau beide Söhne und ihren Mann überlebte.
6Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück;
denn sie hatte erfahren im Moabiterland,
dass der
Herr sich seines Volkes angenommen
und ihnen Brot gegeben hatte.
7Und sie ging aus von dem Ort, wo sie gewesen war,
und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr.
Und als sie unterwegs waren,
um ins Land Juda zurückzukehren,
8sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern:

Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter!
Der
Herr tue an euch Barmherzigkeit,
wie ihr an den Toten und an mir getan habt.
9Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet,
eine jede in ihres Mannes Hause!

Und sie küßte sie.
Da erhoben sie ihre Stimme und weinten
10und sprachen zu ihr:

Wir wollen mit dir zu deinem Volk gehen.

11Aber Noomi sprach:

Kehrt um, meine Töchter!
Warum wollt ihr mit mir gehen?
Wie kann ich noch einmal Kinder in meinem Schoße haben, die eure Männer werden könnten?
12Kehrt um, meine Töchter,
und geht hin;
denn ich bin nun zu alt,
um wieder einen Mann zu nehmen.

Und wenn ich dächte:
„Ich habe noch Hoffnung!“
und diese Nacht einen Mann nehmen
und Söhne gebären würde,
13wolltet ihr warten, bis sie groß würden?
Wolltet ihr euch so lange einschließen
und keinen Mann nehmen?
Nicht doch, meine Töchter!
Mein Los ist zu bitter für euch,
denn des
Herrn Hand ist gegen mich gewesen.

14Da erhoben sie ihre Stimme und weinten noch mehr.
Und Orpa küßte ihre Schwiegermutter,
Rut aber blieb bei ihr.

15Sie aber sprach:

Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk
und zu ihrem Gott;
kehre auch du um, deiner Schwägerin nach.

16Rut antwortete:

Rede mir nicht ein,
dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte.
Wo du hingehst, da will ich auch hingehen;
wo du bleibst, da bleibe ich auch.
Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.
17Wo du stirbst, da sterbe ich auch,
da will ich auch begraben werden.
Der
Herr tue mir dies und das,
nur der Tod wird mich und dich scheiden.

18Als sie nun sah,
dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen,
ließ sie ab, ihr zuzureden.
19So gingen die beiden miteinander,
bis sie nach Bethlehem kamen.

Lasst uns beten: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege!2 — Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

(1) Vorurteile können eine richtig gute Sache sein.
Wenn Du einem fremden Hund gegenüberstehst,
- der die Ohren anlegt,
- den Schwanz einzieht
- und dir die Zähne zeigt,
dann ist das Vorurteil vollkommen angemessen zu meinen,
dass der eine aggressive Grundhaltung eingenommen hat
und du besser auf Abstand bleiben sollst.
In diesem Fall ist ein Vorurteil ein echter Segen.

Zu einem Fluch können Vorurteile auch werden.
Man könnte zum Beispiel das Vorurteil haben,
dass Zahnärzte einen in die Rückenlage versetzen,
um einem dann mit Instrumenten im Mund herumzufurwerken
und einem ab und zu auf den Nerv bohren –
und zwar im Wortsinne!
Wir wissen alle,
dass diese Vorurteile nicht ganz unbegründet sind.
Wachsen sie sich aber zu einer richtigen
Angst vor dem Zahnarzt aus,
mögen sie Menschen sogar davon abhalten,
sich medizinischer Versorgung zu unterziehen,
die gut für sie ist.
Dann stehen Vorurteile dem Guten regelrecht im Wege.

Vorurteile sind sehr verbreitet.
Selbst Jesus hatte Vorurteile.
Als der Hauptmann von Kapernaum ihm sagt:

Herr, ich bin nicht würdig,
dass du eingehst unter mein Dach,
aber sprich nur ein Wort,
so wird mein Knecht gesund.

Da wunderte sich Jesus:

Wahrlich ich sage euch,
solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden!

Jesus wundert sich:
Bei einem
Heiden hat er solchen Glauben nicht erwartet.

Der Evangelist Matthäus erzählt uns diese Geschichte,
weil er uns zu der Frage führen will,
wie das eigentlich mit
uns ist
und
unseren Vorurteilen.
Damit steht er in guter biblischer Tradition.
Das Buch Rut ist ein Beispiel dafür.

(2) Rut ist Moabiterin.
Die haben in der Bibel nicht gerade den besten Ruf.
Das 4. Buch Mose, genannt Numeri, beschreibt das so:

1Auf dem Weg ins gelobte Land lagerte Israel in Schittim.
Da fing das Volk an zu huren
mit den Töchtern der Moabiter;
2die luden das Volk zu den Opfern ihrer Götter.
Und das Volk aß und betete ihre Götter an.

Da kann man sich gut vorstellen,
wie anständige israelitische Eltern darüber gedacht haben,
wenn ihre Söhne Moabiterinnen geheiratet haben.

Ich glaube, das ist uns nicht ganz fremd:

  • Ich habe neulich mit einem Mann gesprochen,
    der meinte, als er seine Frau geheiratet habe,
    sei das in den Augen seiner Schwiegereltern
    eine „Mischehe“ gewesen.
    Er war damals noch in der Landeskirche.
  • Oder:
    Eine Frau hat mir erzählt,
    dass sie kämpfen musste, um kirchlich getraut zu werden.
    Sie kommt aus einer frommen SELK-Familie,
    ihr Mann glaubt nicht an Gott.
    Und da hat sie Bibel und Kirchenrecht gewälzt,
    um Pastor und Kirchenvorstand zu überzeugen,
    dass sie ihn doch kirchlich heiraten darf.

Ich denke, das braucht man sich auch nicht schönreden:
Es kann schon passieren,
dass es schwieriger ist zu glauben,
wenn man sich in der Beziehung da nicht einig ist.
Schon alleine sonntags in die Kirche zu gehen:

Die Arbeit lässt uns so wenige freie Stunden zusammen
und dann willst du am Sonntag in die Kirche?

Na, dann komm doch mit!

Ne, ich glaub’ da nicht dran
und ich will auch nicht so tun als ob!

Na ja, das ist ja nicht der schlechteste Grund,
um
nicht in die Kirche zu gehen.

Aber es zeigt uns eben auch,
dass die Sorge christlicher Schwiegereltern
nicht ganz unbegründet sind.
Wichtig ist aber, dass sie sich nicht zu einer Angst verhärtet.
Wo das Buch Numeri ein Beispiel aufbewahrt,
wie eine Warnung,
da ist das Buch Rut vollkommen entspannt.

Noomi hat ja zwei Schwiegertöchter: Rut und Orpa.
Sie sagt zu beiden:

Kehr nun zurück in das Haus deiner Mutter
und zu deinem Volk
und zu deinem Gott.

Wir können sicher davon ausgehen,
dass sich jede Schwiegermutter
und jeder Schwiegervater im alten Israel,
sich gewünscht haben:

Ich hätte gerne eine Schwiegertochter wie die Rut!
Die zu
meinem Volk und zu meinem Gott gehören möchte!

Aber weder Noomi
noch der biblische Erzähler
kritisieren die Entscheidung von Orpa.
Sie bleibt bei ihrer Weltanschauung
(im heutigen Denken gesprochen)
und in ihrem Heimatland.

Sie weint mit Noomi über den Abschied,
so, wie sie mit ihr getrauert hat über den Tod ihres Mannes.
Aber dann geht sie nach Hause.
Das ist vollkommen legitim.
Da steht kein Wort in der Bibel,
dass das nicht in Ordnung wäre.

Christlich gesprochen wissen wir,
dass der Glaube immer ein Geschenk ist.
Glauben ist immer ein Wunder:
Gott selbst wird aktiv.
3
Auch wenn wir uns den Glauben sehr wünschen
- für ein Schwiegerkind,
- für unseren Ehepartner
- und selbst für unsere eigenen Kinder:
Wir sind da machtlos.

Machtlos, aber wir sind nicht hilflos!

Meine Hilfe kommt vom Herrn,
der Himmel und Erde gemacht hat.
4

Wo wir gerne offen Initiative ergreifen wollen,
da verweist uns Gott auf das Gebet.
Wo wir heimlich nachhelfen wollen,
da wirkt Gott im Verborgenen.

(3) Liebe Gemeinde,
das Buch Rut hat ein
Happy End.
Noomi findet ihren Frieden
und Rut heiratet einen Israeliten.
Sie wird die Mutter von Obed,
der hat einen Sohn namens Isai.
Und dessen jüngster Sohn ist König David.
Rut, die Heidin,
ist zur Mutter einer Dynastie von Königen geworden.

Ich habe diese Predigt angefangen,
indem ich über Vorurteile rede.
Den Vorurteilen zufolge,
hätte niemand von uns mit Gott etwas am Hut.
Wir sind nämlich alle Heiden.
Wir sind nicht weniger Heiden,
als Rut, Orpa oder der Hauptmann von Kapernaum.

  • Wenn wir also ein Beispiel suchen dafür,
    dass Gott Glauben schenkt,
    wo ihn niemand erwartet,
  • wenn wir einen Grund suchen,
    warum wir noch weiter hoffen sollen,
    dass ein lieber Mensch zum Glauben findet,

dann brauchen wir nur auf uns selbst zu schauen.
Durch die Leben von Menschen wie Rut und Noomi
zieht er die Linie seines Heils
bis zu Jesus Christus
und von Jesus Christus bis hin zu uns –
und das gegen jede Erwartung
und gegen jedes Vorurteil.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!5 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ps 119,105


3 Vgl. Mt 16,17.


4 Ps 121,2.


5 Phil 4,7