17:33

Reiß die Himmel auf
Predigt zu Jes 63,15–64.3

41 Jes 63,15–64.3. 2. Advent, 10.12.2017, Heilig-Geist-Kirche, Görlitz, überarbeitet 2. Advent, 6. Dezember 2020, Bremen und Bremerhaven

Die Predigt heute bedenkt einen Abschnitt aus dem Buch Jesaja. Der Prophet will, dass Gott zu uns kommt, mit aller Macht und Herrlichkeit. – So, wie er das schreibt, möchte ich lieber in Deckung gehen. Warum singen wir Christen trotzdem: „O Heilland, reiß die Himmel auf“? – Darauf möchte die Predigt antworten.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Der Abschnitt Heiliger Schrift, den diese Predigt auslegt, steht geschrieben beim Propheten Jesaja im 63. und 64. Kapitel.

Der Prophet betet:2

So schau nun vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!

Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?
Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart
gegen uns3.

Du bist doch unser Vater, —
denn Abraham weiß von uns nichts,
und Israel kennt uns nicht.
Du, Herr, bist unser Vater!
„Unser Erlöser“,
das ist dein Name – von Alter her.

Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen
und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?
Kehr um!
שׁ֚וּב – um deiner Knechte willen,
um der Stämme willen, die dein Erbteil sind!

Kurze Zeit haben sie dein heiliges Volk vertrieben,
unsere Widersacher haben dein Heiligtum zertreten.
Wir sind geworden wie solche, über die du niemals geherrscht hast,
wie Leute, über die dein Name nie genannt wurde.

Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab,
dass die Berge vor dir zerflössen,
4
wie
Feuer Reisig entzündet
und wie
Hitze5 Wasser sieden macht.
Dein Name soll kund werden unter deinen Feinden
und die Völker sollen vor dir zittern,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten /
und das man von alters her nicht vernommen hat.

Kein Ohr hat gehört und kein Auge hat gesehen
einen Gott außer dir,
der so
wohl tut denen, die auf ihn harren.

Lasst uns beten: Herr Gott, Heiliger Geist, komm herab in die Herzen deiner Kirche und segne dein Wort an uns. — Amen

Liebe Brüder und Schwestern,

was ist das für ein Mann, der so beten kann:

Wo ist nun dein Eifer und deine Macht?
Deine große, herzliche Barmherzigkeit hält sich hart
gegen uns.

Selbst, wenn er mit Gott hadert,
macht Jesaja Gott noch groß.
Er begegnet Gott nicht mit einer Forderung,
sondern er behaftet ihn bei seinem eigenen Wort:

„Was ist nun mit deinem Versprechen,
dass wir das gelobte Land erben werden?“
„Was ist nun mit der Verheißung,
dass der Zion ewig stehen wird?“ —

„Wir sitzen hier im Exil,
geschlagen und gedemütigt.
Was wird uns aus dieser Situation retten?
Wie kommen wir aus dieser Nummer ’raus?
Wer wird uns aus dieser Gefangenschaft freikaufen?
Wer — wer, wenn nicht du?“

Jesaja bringt in diesem Gebet die Not und das Leid seines Volkes vor Gott.
Er ist ihr Seelsorger.

Er hört, was sie bedrückt,
lernt kennen, wie sie fühlen,
und bringt es dann vor Gott zur Sprache.

Wir können uns seine Rolle vorstellen,
wie die Rolle des Pastors in der Gemeinde.
Auch der Pastor hört, was seine Gemeinde bedrückt,
lernt kennen, wie sie fühlen,
und bewegt dies vor Gott in seinem Herzen.

Das ist der Unterschied zwischen
einem Geisteswissenschaftler oder Psychologen
und einem Pastor:
Sie führen literarische oder therapeutische Gespräche,
der Pastor führt seelsorgerliche Gespräche.
Er redet im Horizont und in der Gegenwart Gottes
mit seiner Gemeinde
und für seine Gemeinde vor Gott.

Auch die alten Israeliten hatten Handwerker, Denker und Politiker, die sich um das Volk mühten.
Aufgabe
der Propheten war es,
für Gott vor dem Volk zu verkündigen,
aber auch für das Volk zu Gott zu beten.

Jesaja betet:

So schau nun vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!

Das ist seine Bitte an Gott:
„Schau auf uns!
Sieh uns an!“
Wenn ein Kind sich verletzt hat, läuft es zu seinem Vater:

„Papa, Papa, guck mal, ich habe mir weh getan!“

Da ist ganz egal, ob das wegen eigener Schusseligkeit passiert ist oder nicht: Wenn man sich weh getan hat, rennt man zu seinem Vater:

„Guck mal Papa, ich habe mir weh getan.
Ich blute.
Es tut weh.
Ich brauche deine Hilfe!“

Das sind erwachsene Leute, von denen wir reden,
wenn wir „Volk Israel“ sagen.
Und auch wir sind erwachsene Leute.
Aber vor Gott sind wir natürlich wie Kinder
und dürfen es auch sein.

Darum betet Jesaja weiter:

Du bist doch unser Vater, —
denn Abraham weiß von uns nichts,
und Israel kennt uns nicht.
Du, Herr, bist unser Vater!
„Unser Erlöser“, das ist dein Name – von Alter her.

Es ist so selbstverständlich für uns, Gott mit „Vater“ anzureden, dass es uns nicht auffällt, wie revolutionär dieser Gedanke ist. Diese Selbstverständlichkeit ist eines der großen Geschenke,
die das Christkind — das Christus-Kind! — uns gebracht hat:
Weil Gott in Christus Mensch geworden ist,
und wir in der Taufe mit ihm verbunden sind,
dürfen wir zu ihm kommen und ohne jede Zurückhaltung „Vater“ nennen:

So schau nun vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!
Du, Herr, bist unser Vater.

Bei Jesaja hat die Anrede Gottes als Vater noch einen anderen Grund. Er sagt:

Abraham weiß von uns nichts,
und Israel kennt uns nicht.

„Israel“ ist hier gebraucht als Zweitname von Jakob. Also: Die Erzväter, Abraham und Jakob, sie können uns nicht helfen. Sie sind tot, sie liegen in ihren Gräbern.
Die wissen nicht, wie es uns geht.
Aber
Du, Herr, weißt es.
Du bist lebendig, mitten unter uns.6

Auch wir müssen daran erinnert werden,
dass unsere Vorväter tot sind.
Ihre Leistung als Dichter und Denker,
selbst ihre Arbeit in Bergwerken und Schmieden,
und auch unser Wohlstand und Rechtsstaat
„kennen uns nicht“.
Sie mögen wichtige Werkzeuge sein, doch
sie sind keine Garanten für Frieden und Segen.
Sie bringen keine Erlösung.
Menschliche Institute tun das nie.

Nichts führt uns das so deutlich vor Augen,
wie das Kreuz Christi.
Vom Reichsten bis zum Ärmsten,
vom Klügsten bis zum Dümmsten,
vom frommsten bis zum atheistischen Menschen
haben sie alle geschrieen: „Kreuzigt ihn“.

Ganz auf Linie dessen, was Jesaja in seinem Namen verkündigt hat, hat Gott hier offenbar gemacht, dass es in der Welt nichts gibt, das uns retten kann vor uns selbst.
Der Unterschied zwischen Leben und Tod ist,
welche Beziehung Gott mit uns eingeht.
Der Unterschied zwischen Leben und Tod ist,
ob Gott sich unserer annimmt und uns erlöst.

Deswegen Fragt Jesaja:

Warum lässt du uns, Herr, abirren von deinen Wegen
und unser Herz verstocken, dass wir dich nicht fürchten?

Kehr um! – um deiner Knechte willen,
um der Stämme willen, die dein Erbteil sind!

Unser Herz ist nicht von allein auf Gott ausgerichtet,
das stellen wir immer wieder in unserem Leben fest.
Gottes Weg für uns wollen wir nicht sehen,
wir halten ihn fern von uns und
verschließen unser Herz.

Jesaja ruft Gott zu „Kehr um!“ – Das ist das selbe Wort, das auch für die Umkehr des Menschen zu Gott steht.

Wenn Jesus sagt,

„Kehrt um, tut Buße,
das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“,

dann klingt diese Vokabel mit.
Es ist wie Frage und Antwort:
Was Jesaja sagt ist
Bitte und Gebet.
Was Christus sagt ist
Schöpfung,
denn sein Wort wirkt, was es sagt.
Wer Jesus
wirklich hört:

„Kehr um, tu Buße“,

der wird durch diese Worteneu geschaffen,
zu einer neuen Kreatur.

Das bedeutet:
In Jesus Christus ist dieses Gebet Jesajas erfüllt.

„Kehr um! – um deiner Knechte willen,
um der Stämme willen, die dein Erbteil sind!“
— betet der Prophet.

Als Jesus das Abendmahl einsetzte, sagte er:

Dies ist mein Leib, für euch gegeben,
zur Vergebung eurer Sünden
Dies ist mein Blut,
für euch vergossen.

Dieses „für euch“ bedeutet „um euretwillen“.
In Christus hat Gott sich abgewendet von seinem Zorn
und ist umgekehrt zu seiner Gnade.

Jesaja klagt Gott, dass er zulässt,
dass wir seinen Weg verlassen. —
Wer Christus folgt, geht auf dem Weg Gottes.
Das ist für uns Menschen schwer genug!
Oft müssen wir mit unserem Versagen umgehen.
Sein Vaterherz aber steht uns immer offen,
mit Annahme, Liebe und Vergebung.

Der Prophet betet weiter:

Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab,
dass die Berge vor dir zerflössen,
wie
Feuer Reisig entzündet
und wie
Hitze Wasser sieden macht.
Dein Name soll kund werden unter deinen Feinden
und die Völker sollen vor dir zittern müssten,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten /
und das man von alters her nicht vernommen hat.

Kein Ohr hat gehört,
kein Auge hat gesehen
einen Gott außer dir,
der so wohl tut denen, die auf ihn harren.
7

Jesaja betet um das Kommen Gottes, wie er sich seine Gegenwart im Gegenüber zu Mose vorgestellt hat. Als Gott auf dem Berg Sinai mit ihm geredet hat, ging dies mit vulkanischer Aktivität einher: Feuer, Rauch und Erdbeben.

Wie ein Vulkanausbruch soll Gottes Macht die Erde zum sieden bringen, wie man Wasser in einem Topf zum sieden bringt. Dahinter steht der Wunsch, dass Gott die ganze Welt in den Zustand zurückverwandelt, den wir uns als „Paradies“ vorstellen:

  • Eine Welt ohne Vergänglichkeit und Tod,
  • Krankheit und Verletzung.
  • Eine Welt ohne Missverständnis und Streit,
  • in der universale Gerechtigkeit und Liebe herrschen.

Es scheint ihm egal, ob das mit einigem an Kollateralschaden einhergeht:

  • Was macht es schon, wenn ein paar Böse mehr oder weniger verbrennen?
  • Wenn die Feinde Gottes vor Angst zittern,
    zittern die richtigen!
  • Wenn Gott seine Macht furchtbar zeigen würde,
    wäre sie endlich unzweifelhaft klar für jeden Menschen.

Ich mag Jesaja!
Seine Leidenschaft ist für den Herrn
und sein Eifer ist für die Menschen, die ihm anvertraut sind.
Ich
wünschte, ich könnte beten wie er!
Aber ich bin auch froh,
dass Gott die Leidenschaft und den Eifer des Propheten
mit Liebe und Vergebung beantwortet hat!

Wie anders hat Gott sich der Welt zugewandt,
als mit Feuer und Erdbeben!
Er ist ein Kind geworden, ein Baby.
Er hat in Windeln gelegen in einem Futtertrog,
denn seine Eltern hatten kein Bettchen für ihn hatten.
Er ist einer von uns geworden und hat sich neben uns gestellt in das Leid und die Vergänglichkeit der Welt.
Er hat den Tot durchlitten, wie jeder andere Mensch auch.

In ihm hat sich Gott der Welt ganz zugewandt,
ganz anders, als es je jemand erwartet hat,
aber nicht weniger mächtig.
Seine Macht zeigt sich nicht in Zorn und Gewalt,
sondern in Liebe und Vergebung.

In Jesus’ Kommen in diese Welt,
in seinem Leben hier,
seinem Tod
und seiner Auferstehung,
ist die Neue Schöpfung schon ganz gegenwärtig.
„Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“.

Wir reden davon, dass Jesus dereinst wiederkommen wird.
Wir feiern Advent und freuen uns darauf, dass der Herr kommt und uns endgültig dazu befreit, in seinem Reich zu leben.

Dabei wissen wir, dass
- seine Geburt vor 2.000 Jahren,
- das Weihnachten, das wir jedes Jahr feiern,
- und sein Kommen in Ewigkeit
nur
zeitlich auseinanderfallen.
In Wirklichkeit sind sie ein und das selbe.

Das Himmelreich ist da!
Das Gebet Jesajas ist in Erfüllung gegangen,
hier im Gottesdienst, —
und in deinem Leben,
das du lebst mit dem Herrn Jesus Christus.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!8 Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ich habe recht stark eingegriffen in den Text, insb. die Glosse in 64,2 gestrichen.


3 Luther: „mich“ nach MT; Plural nach LXX und Gattung („Klage des Volkes“).


4 „Erzitterten“. Ein alterwürdiger Übersetzungsfehler Luthers. Schön, aber trotzdem falsch. Ich kann nicht glauben, dass er in LUT 2017 immer noch drinsteht!


5 „Feuer“ bei Luther. Ist auch richtig, aber: variatio delectat.


6 Jesus ist hier übrigens ganz auf Jesajas Linie, Lk 3,8: „Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken“.


7 Die Hörern seiner Gleichnisse mahnte Christus: „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“


8 Phil 4,7