14:12

Die Heilung des Blindgeborenen
Predigt zu Joh 9,1–7

31 8. So. n. Trinitatis, 2. August 2020,

„Hat dieser gesündigt, oder seine Eltern?“ – Manche Theologen finden, die Frage der Jünger sei so dumm, dass Jesus sie gar nicht beantwortet. Ich glaube, das ist zu kurz gegriffen. Die Jünger stellen eine echte Frage. Die Art, wie sie die Frage stellen, ist provokant, aber sie möchten von Jesus eine Antwort hören. Sie Fragen: „Lehrer, was ist die Gerechtigkeit Gottes?“ Und Jesus antwortet.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.
1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
steht geschrieben beim Evangelisten Johannes, im 9. Kapitel:

Und Jesus ging vorüber
und sah einen Menschen,
der blind geboren war.

Und seine Jünger fragten ihn und sprachen:

Meister, wer hat gesündigt,
dieser oder seine Eltern,
dass er blind geboren ist?

Jesus antwortete:

Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern,
sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.

Wir müssen die Werke dessen wirken,
der mich gesandt hat, solange es Tag ist;
es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.
Solange ich in der Welt bin,
bin ich das Licht der Welt.

Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde,
machte daraus einen Brei
und strich den Brei auf die Augen des Blinden.

Und er sprach zu ihm:

Geh zum Teich Siloah –das heißt übersetzt: „gesandt“–
und wasche dich!

Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Lasst uns beten: Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege!2 — Amen

Liebe Gemeinde,

wir haben gerade einen Abschnitt aus der Bibel gehört,
der im wesentlichen aus einer Frage
und einer Antwort besteht.
Die Jünger fragen,
ob der Blindgeborene
oder seine Eltern gesündigt haben. —
Das ist eine komische Frage!
Wie kommen die darauf?
Und Jesus’ Antwort,
dass er blind ist,
damit „die Werke Gottes an ihm offenbar werden”… —
Das ist eine komische Antwort.
Was soll das heißen?

Ich möchte kurz über die Frage der Jünger reden
und was dahinter stecken könnte.
Ausführlich möchte ich Jesus’ Antwort anschauen.

Zuerst: Die Frage.
Die Jünger glauben an einen
gerechten Gott.
Der zahlt in barer Münze,
was angemessen ist.
In diesem Denken gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem, was man tut
und dem, wie es einem ergeht.
Wenn du also mit Blindheit geschlagen bist,
hast du das verdient!

Das Schöne an dieser Vorstellung ist,
dass sie sofort einleuchtet.
Das ist eine sinnvolle Definition göttlicher Gerechtigkeit.
So gesehen wirkt Gottes Gerechtigkeit absolut
und messerscharf.

Dieses Konzept kann aber nicht erklären,
wenn jemand
von Geburt an bestraft scheint.
Wie soll er vor seiner Geburt gesündigt haben?

Eine gängige Erklärung ist,
dass Schuld der Eltern auf das Kind „umgebucht“ worden ist. Frei nach dem alttestamentlichen Satz:

Denn ich, der Herr, dein Gott,
bin ein eifernder Gott,
der die Missetat der Väter heimsucht
bis ins dritte und vierte Glied
an den Kindern derer, die mich hassen.
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Ein solches Gottesbild ist schwer zu ertragen.
Ein liebender Gott würde doch nicht ein unschuldiges Kind
derart belasten.
Deswegen finden manche Theologen,
die Frage der Jünger sei so dumm,
dass Jesus sie gar nicht beantwortet.

Ich glaube, das ist zu kurz gegriffen.
Die Jünger stellen eine echte Frage.
Die Art, wie sie die Frage stellen,
ist provokant,
aber sie möchten von Jesus eine Antwort hören.
Und Jesus gibt sie ihnen.

Die Jünger Fragen:

Lehrer, was ist die Gerechtigkeit Gottes?

Und Jesus antwortet:

Ich.

Das ist die Art Antwort,
die der Johannes-Evangelist gesammelt hat.
Johannes hat die Worte Jesu aufgeschrieben,
die mit „ich“ anfangen:

„Ich bin das Brot des Lebens.“4

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“5

„Ich bin das Licht der Welt.“6

Unser Glaube ist ein Echo dieses „Ich“.

Wir glauben,
dass Jesus Christus der Sohn ist,
- „aus dem Vater geboren vor der Zeit, […]
- Gott von Gott,
- Licht vom Licht, […]
- für uns Menschen und zu unserem Heil
- ist er vom Himmel gekommen,
- hat Fleisch angenommen […]
- und ist Mensch geworden.“

Es ist unser Glaube,
- dass der allmächtige Gott,
- der ewige Vater,
einer von uns geworden ist in Jesus Christus. —
Das ist das erste,
woran wir denken sollen,
wenn wir Gott „gerecht“ nennen.

  1. Gott ist nicht gerecht wie ein Kapitalist.
    Dessen Gerechtigkeit ist Buchführung.
  1. Gott ist nicht gerecht wie ein Jurist.
    Dessen Gerechtigkeit sind Regeln.
  • Gott ist gerecht wie der Hausherr,
    der seinen Arbeitern den ganzen Tag bezahlt,
    egal, wie lange sie gearbeitet haben.
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  • Gott ist gerecht wie der Vater des verlorenen Sohnes.
  • Er nimmt sein Kind an,
    wo der Kapitalist eine Rechnung aufmacht.
  • Er ist barmherzig,
    wo der Jurist auf die Regeln gepocht hätte.

Gegen jeden Geschäftssinn,
gegen jede Regel,
macht es Gott zu seiner Gerechtigkeit,
Mensch zu werden.

Nichts, nichts hat ihn getrieben, zu uns vom Himmel her.8

Vor diesem Hintergrund ist Jesu Antwort zu verstehen:

Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern,
sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.

Wenn es einem Menschen schlecht geht,
fängt Jesus nicht an zu debattieren,
was dieser Mensch hätte besser machen können.
Er fragt nicht
- nach seinen Eltern,
- seiner Kinderstube,
- fragt nicht nach Nutzen oder Lohn.
Wenn es einem Menschen schlecht geht, hilft er.

Und wenn es einem Menschen schlecht geht,
helfen wir.
Und das ist nicht eine moralische Überzeugung,
sondern ein direkter Schluss daraus,
wer Jesus Christus ist und was er getan hat.

Jesus sagt:

Wir müssen die Werke dessen wirken,
der mich gesandt hat.

Gott hat uns vorgemacht,
wie man sich Menschen gegenüber verhält,
die gerettet werden müssen.
Er wird einer von ihnen.
Jesus Christus macht uns vor, wie das konkret aussieht:
- Er hilft ihnen medizinisch,
- er hat Gemeinschaft mit ihnen,
- er nimmt sie liebevoll an
- und lehrt sie Gottes Wort.
Also kurz:
Alles das, was Jesus mit uns gemacht hat,
das sollen wir auch tun.
Konventionelle, menschliche Vorstellungen von Gerechtigkeit dürfen und sollen dabei hinten angestellt werden.

Im Nachgang unserer Geschichte
wird es ein großes Thema sein,
dass Jesus den Blindgeborenen an einem Sabbat geheilt hat. Der Sabbat ist Gesetzt Gottes.
Einem Menschen zu helfen ist Gerechtigkeit Gottes,
egal ob das gesellschaftlich anerkannt ist oder nicht.
So wird das „wir“,
das Jesus für sich und uns gebraucht,
konkret und fassbar
und die Werke Gottes werden greifbar und offenbar.
Wenn Jesus „wir“ sagt,
bringt er dieses Handeln Gottes an uns auf ein einzelnes Wort.

Die Kirche ist keine Zweckgemeinschaft
oder ein Verein von Leuten,
die gutes tun und darüber reden.
Die Kirche ist im Auftrag des Herrn unterwegs.
Der Vater sendet den Sohn und der Sohn sendet uns.

  1. Das diakonische Engagement der Kirche ist eine Art,
    wie sie Jesu Auftrag ausführt.
    Und wenn sie diakonisch handelt,
    handelt das „wir“,
    in dem Christus mit uns zusammen gemeint ist.
  1. Das gleiche gilt auch für den Gottesdienst.
    Natürlich feiern wir Gottesdienst
    für Christus.
    Wir feiern ihn aber auch immer
    mit Christus.
  1. Wenn wir von unserem Glauben erzählen,
    erzählen wir von Christus.
    Christus bezeugt aber immer mit uns.
    Wir tun das in Gott, dem Heiligen Geist,
    der die Christen berufen hat aus allen Völkern,
    aus allen Schichten.

Obwohl wir so verschieden sind, gibt einen Geist,
der das alles durchdringt
und es gibt ein „wir“ das das alles zusammen hält.
Ein „wir“, von Gott gesagt.

Liebe Gemeinde,
die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes
ist nicht einfach nur theoretisch.
Sie hat eine praktische Seite.
Jesus hilft dem blind geborenen Mann
und beauftragt seine Jünger,
diesem Beispiel zu folgen.

Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes
hat eine persönliche Seite.

Wenn Gott die Sünden anrechnen würde,
wer würde bestehen?
9

Jesus sagt:

Die Gerechtigkeit Gottes,
das bin ich.

- Gottes Gerechtigkeit ist Liebe,
- Gottes Gerechtigkeit ist Vergebung.
- Gott lässt sich seine Gerechtigkeit etwas kosten.
Nirgendwo ist das so deutlich zu sehen,
wie in der Menschlichkeit seines Sohnes Jesus Christus,
der unser Bruder geworden ist,
- für uns
- und um unseretwillen.

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

1 1.Kor 1,3


2 Ps 119,105


3 Ex 20,5


4 Joh 6,35


5 Joh 15,5


6 Joh 8,12 und hier im Abschnitt, Joh 9,5.


7 Vgl. Mt 20.


8 ELKG 10,5 „Wie soll ich dich empfangen?“.


9 Nach Ps 130, vgl. vollständige Form der gemeinsamen Beichte, Agende S. 479.