10:55

Die Dämmerung des Himmelreiches
Predigt zu Röm 13,8–12

2 1. Advent, 1. Dezember 2019, Bethlehemsgemeinde, Bremen

Der Advent hat etwas von einer Morgendämmerung.
 Die Dämmerung ist ein Moment der Gleichzeitigkeit. 
 Wenn man morgens ganz früh aufsteht, 
hatte die Sonne noch keine Zeit, 
die Erde zu erwärmen.
 Das Licht des Tages ist zwar schon da,
 aber es ist noch kalt, wie in der Nacht.
 Tag und Nacht überlappen sich.
 Und jetzt im Advent
 überlappen sich die Welt und das Reich Gottes.
 Es ist noch kalt.
 Die Welt ist unfreundlich, voll Hunger und Leid.
 Unser Leben steht in Frage – durch Krankheit, Leiden und Tod.
 Unseren Beziehungen sind in Gefahr durch Sünde und Schuld.
 Aber das Licht des Tages zieht schon herauf.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater,
und dem Herrn Jesus Christus.1 Amen.

Das Wort Heiliger Schrift, das diese Predigt auslegt,
ist die Epistel-Lesung für den 1. Advent,
aus dem Brief des Paulus an die Römer im 13. Kapitel:

8Seid niemandem etwas schuldig,
außer, daß ihr euch untereinander liebt;
denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt.

9Denn was da gesagt ist: „Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren“, und was da sonst an Geboten ist,
das wird in diesem Wort zusammengefaßt:
„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

10Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.
So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.

11Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt,
nämlich daß die Stunde da
ist, aufzustehen vom Schlaf,
denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit,
da wir gläubig wurden.
12Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis
und anlegen die Waffen des Lichts.

Der Herr unser Gott segne dieses Wort an uns. — Amen

Liebe Brüder und Schwestern!

Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge
und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge
und jedermann untertan.

Mit dieser doppelten These beginnt Martin Luther seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.
Der Reformator bezieht sich dabei ausdrücklich auf unsere Epistel heute:

Seid niemandem etwas schuldig,
als dass ihr euch untereinander liebt.

Martin Luther fährt fort:

Um diese beiden widersprüchlichen Redeweisen von der Freiheit und der Dienstbarkeit zu verstehen,
müssen wir daran denken,
dass jeder Christenmensch von zweierlei Natur ist,
von geistlicher und leiblicher.
Nach der Seele wird er ein
- geistlicher,
- neuer,
- innerer
Mensch genannt,
nach Fleisch und Blut wird er ein
- leiblicher,
- alter
- und äußerer
Mensch genannt.
2

Für Luther geht es hier um das große Ganze.
Es geht um die Frage:
„Was ist ein Christ
und welche Schlüsse ziehen wir daraus für unser Leben? —
Als Antwort bietet Luther zwei Sätze,
die sich direkt widersprechen.
Er sagt, wir seien gleichzeitig
- frei und unfrei,
- von „geistlicher“ und von „fleischlicher“ Natur,
- ein „innerer“ und ein „äußerer“ Mensch.
Der Mensch ist geprägt von dieser Gleichzeitigkeit:
gleichzeitig „gut“ und „böse“,
gleichzeitig ein Sünder und gerecht.

Der Advent hat etwas von einer Morgendämmerung.
Die Dämmerung ist ein Moment der Gleichzeitigkeit.
Wenn man morgens ganz früh aufsteht,
hatte die Sonne noch keine Zeit,
die Erde zu erwärmen.
Das Licht des Tages ist zwar schon da,
aber es ist noch kalt, wie in der Nacht.
Tag und Nacht überlappen sich.
Und jetzt im Advent
überlappen sich die Welt und das Reich Gottes.
Es ist noch kalt.
Die Welt ist unfreundlich, voll Hunger und Leid.
Unser Leben steht in Frage – durch Krankheit, Leiden und Tod.
Unseren Beziehungen sind in Gefahr durch Sünde und Schuld.
Aber das Licht des Tages zieht schon herauf.
Gott kommt zu uns.
Er wird einer von uns.
Er will uns ganz nahe sein.

Wir wissen: Das ist etwas, worüber wir uns freuen! –
aber wir müssen ersteinmal erschrecken:
Im Licht Gottes
werden wir uns unserer Situation bewusst.
Weil wir erahnen können,
wie das Himmelreich ist,
wird uns der Unterschied zwischen Gottes Reich
und unserer Welt um so bewusster.
Gerade auch an uns selbst.
Wir müssen „an uns selbst verzweifeln“
3 schreibt Luther.
Deswegen ist die Adventszeit von alters her eine Bußzeit.
Im Advent singen wir kein Gloria
(„Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’)
und auch das Kyrie ist verkürzt auf die kleinlaute B-Form.
Wir begrüßen unseren Heiland Jesus Christus nicht mit
„Glanz und Gloria“ im Gottesdienst,
sondern vorsichtig und bescheiden.

Liebe Gemeinde,
wir tun dies nicht in Ungewissheit.
An uns selbst sollen wir „verzweifeln“,
wie Luther es nennt,
aber an Jesus sollen wir glauben.
Und wir haben auch allen Grund dazu,
denn das Licht des neuen Tages ist schon deutlich zu sehen
und die ersten Strahlen seiner Wärme sind deutlich zu spüren.

Paulus schreibt an die Römer,
alle Gebote seien in diesem einem zusammengefasst:

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“

10Die Liebe handelt am Nächsten nicht böse,
sondern des Gesetzes Erfüllung ist die Liebe.

Die Fülle des Gesetzes,
die Fülle von dem,
was Gott sich für uns wünscht,
ist die Liebe, die er schenkt.

Das steht da als Befehl:
- „Liebe Gott mit aller Kraft“,
- „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“,
aber dieser Befehl wirkt in uns,
was er sagt.
Wir bekommen diese Liebe geschenkt
und wir sollen einander mit dieser Liebe lieben.

Es ist ein bisschen so,
wie als wir junge Kinder waren.
Unsere Eltern haben uns das Taschengeld erhöht,
damit wir unseren Geschwistern
Weihnachtsgeschenke kaufen können.

Das, was wir da verschenken,
haben wir nicht verdient oder erarbeitet.
Statt dessen reichen wir ein Geschenk weiter,
das wir unsererseits geschenkt bekommen haben.
Das Schenken und die Freude des Empfangens
hat die selbe Quelle:
Die Liebe, die die Eltern für ihre Kinder haben
setzt sich fort in Liebe der Kinder untereinander.

So setzt sich die Gottes Liebe für uns
in unserer Liebe untereinander fort.
Und diese Liebe ist so überbordend,
so reichlich,
dass sie überläuft und überschwappt
auf alle Menschen um uns herum:

Seid niemandem etwas schuldig,
außer dass ihr euch untereinander liebt.

Das gilt in der Gemeinde.
Und dann läuft es über die Grenzen der Kirche über:

Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.

Wo das geschieht,
ist es immer ein Wunder.
Gott greift ein in den Lauf dieser Welt.
Hier wird die Wärme des neuen Tages spürbar
auch in der Kälte der Welt.

Liebe Brüder und Schwestern –
in unserem alltäglichen Handeln bleiben Licht und Finsternis gleichzeitig.
Es gibt aber einen Ort,
da geschieht vor unseren Augen
dieses Wunder:
Gott greift in die Welt ein,
verborgen zwar, aber liebevoll und schöpferisch.
Im Abendmahl erfahren wir Gottes Nähe unvermischt.
Hier ist seine Liebe greifbar und erfahrbar.
Diese Liebe gibt uns die Kraft, eigene Fehler einzugestehen,
denn auch als Sünder sind wir geliebt.
Diese Liebe gibt uns die Kraft, zu vergeben,
denn auch als Schuldige sind wir von Gott angenommen.
Verborgen in und unter dem Brot und Wein,
ist die Wirklichkeit des neuen Tages vollständig offenbar.
Klein und unscheinbar begegnet uns hier Großes und Heiliges:
Gottes Liebe mit all ihrem Licht und ihrer Wärme.
Das Abendmahl ist Proviant für die,
die noch unterwegs sind.
Es stärkt uns auf unserem Weg in der Dämmerung.
Noch umfängt uns die Kälte der Nacht,
doch das Licht des neuen Tages leuchtet uns schon.
Ich freue mich auf den Tag, an dem der Herr kommt,
wie ein Kind sich auf Weihnachten freut,
denn im Grunde ist das das selbe!

Maranatha4 – komm Herr Jesus!

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus!5
Amen.

1 1.Kor 1,3


2 DDStA Bd. 1, S. 283.


3 DDStA, 1,285.


4 1Kor 16,22


5 Phil 4,7